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RA 04/2018 - Entscheidung des Monats

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196 Öffentliches Recht

196 Öffentliches Recht RA 04/2018 Nein, staatliche Neutralitätspflicht gilt immer [46] Auch außerhalb von Wahlkampfzeiten erfordert der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Beachtung des Gebots staatlicher Neutralität. Denn der Prozess der politischen Willensbildung ist nicht auf den Wahlkampf beschränkt, sondern findet fortlaufend statt. […] Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG schützt das Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb in seiner Gesamtheit. Folglich hatte die Bundesministerin bei ihrer Erklärung die beschriebene Neutralitätspflicht zu beachten. Die Feststellung, dass sie diese Pflicht verletzt hat, verlangt eine genaue Betrachtung des Inhalts der Pressemitteilung. Immer ein Klausurschwerpunkt, wenn es um die Zulässigkeit von Äußerungen geht: vollständige und ganz genaue Auswertung dessen, was gesagt wurde. Hier: Parteiergreifende Äußerung der Ministerin (+) Weiterer möglicher Eingriff: Beeinflussung des Verhaltens potentieller Versammlungsteilnehmer Eingriff (+), wenn politische Veranstaltung durch Staatsorgane positiv oder negativ bewertet wird „[71] Die Antragsgegnerin spricht sich in ihrer Erklärung dafür aus, der Antragstellerin die „Rote Karte“ zu zeigen. Zur Begründung verweist sie darauf, dass Sprecher der Antragstellerin „der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub leisten“. Außerdem wird der Antragstellerin ausdrücklich angelastet, dass durch das Verhalten von Björn Höcke und anderen Sprechern der Antragstellerin „Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben, wie der Pegida-Chef Bachmann, unerträgliche Unterstützung erhalten“. Die in diesen Aussagen enthaltene abwertende Qualifizierung der Antragstellerin als eine Partei, die den Rechtsextremismus und die Radikalisierung der Gesellschaft fördert, ist geeignet, deren Position im politischen Meinungskampf zu beeinträchtigen. Die Antragsgegnerin fordert durch die Verwendung der Metapher der „Roten Karte“ erkennbar dazu auf, sich von der Antragstellerin zu distanzieren, und wirkt dadurch einseitig zu deren Lasten auf den politischen Wettbewerb ein.“ Folglich liegt eine parteiergreifende Äußerung der Bundesministerin vor. Darüber hinaus könnte sie das Recht der AfD aus Art. 21 I GG auch dadurch beeinträchtigt haben, dass mittels ihrer Erklärung das Verhalten potentieller Teilnehmer der für den 7.11.2015 geplanten Demonstration beeinflusst werden sollte. „[48] […] Veranstaltet eine Partei eine politische Kundgebung, nimmt sie damit den ihr durch Art. 21 Abs. 1 GG zugewiesenen Verfassungsauftrag wahr. Staatliche Organe sind verpflichtet, dies im Rahmen der ihnen obliegenden Neutralitätspflicht hinzunehmen. Sie sind nicht dazu berufen, Bürgerinnen und Bürger zur Teilnahme oder Nichtteilnahme an von einer Partei angemeldeten Demonstrationen zu veranlassen. Ein Eingriff […] liegt dabei nicht erst vor, wenn Staatsorgane unmittelbar zum Boykott einer bestimmten politischen Kundgebung aufrufen oder für den Fall der Teilnahme rechtliche oder tatsächliche Sanktionen in Aussicht stellen. Da jegliche negative Bewertung einer politischen Veranstaltung, die geeignet ist, abschreckende Wirkung zu entfalten und dadurch das Verhalten potentieller Veranstaltungsteilnehmer zu beeinflussen, die gleichberechtigte Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung beeinträchtigt, greift bereits ein derartiges Verhalten in das Recht der betroffenen Partei auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG ein. [49] Darüber hinaus liegt ein Eingriff in dieses Recht auch vor, wenn staatliche Organe aus Anlass einer politischen Kundgebung negative oder positive Werturteile über die veranstaltende Partei abgeben. […] © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2018 Öffentliches Recht 197 [74] Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin enthält sich die Presseerklärung […] keineswegs einer Bewertung der Teilnahme an dieser Versammlung. Vielmehr wird die geplante Demonstration ausdrücklich als Anlass für die Pressemitteilung ausgewiesen. Zugleich kommt erkennbar die Auffassung der Antragsgegnerin zum Ausdruck, dass mit der Teilnahme an dieser Versammlung eine Partei gestärkt würde, deren Sprecher der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub leisteten und Rechtsextreme unterstützten. Die Forderung, einer solchen Partei die „Rote Karte“ zu zeigen, stellt sich vor diesem Hintergrund zumindest als mittelbare Aufforderung dar, der geplanten Demonstration fernzubleiben. Eine derartige Aufforderung missachtet das Gebot der Neutralität staatlicher Organe im politischen Wettbewerb.“ Subsumtion unter genauer Auswertung des Inhalts und der Umstände der Erklärung Somit hat die Bundesministerin in das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 I GG eingegriffen. III. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff könnte durch die Befugnis der Bundesministerin zur Öffentlichkeitsarbeit gerechtfertigt sein. „[51] Die Bundesregierung ist das oberste Organ der vollziehenden Gewalt. Die ihr […] obliegende Aufgabe der Staatsleitung schließt als integralen Bestandteil […] die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ein. […] Sie umfasst die Darlegung und Erläuterung der Regierungspolitik […] sowie die sachgerechte, objektiv gehaltene Information über die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar betreffende Fragen und wichtige Vorgänge auch außerhalb oder weit im Vorfeld der eigenen gestaltenden politischen Tätigkeit. Dabei kann die Bundesregierung auch Empfehlungen und Warnungen aussprechen. [52] Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die der Bundesregierung zukommende Autorität und die Verfügung über staatliche Ressourcen eine nachhaltige Einwirkung auf die politische Willensbildung des Volkes ermöglichen, die das Risiko erheblicher Verzerrungen des politischen Wettbewerbs der Parteien und einer Umkehrung des Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen beinhaltet. [53] Als Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie […] ist es daher zwar hinzunehmen, dass das Regierungshandeln sich in erheblichem Umfang auf die Wahlchancen der im politischen Wettbewerb stehenden Parteien auswirkt. Davon ist aber der zielgerichtete Eingriff der Bundesregierung in den Wettbewerb der politischen Parteien zu unterscheiden. Es ist der Bundesregierung […] von Verfassungs wegen versagt, sich mit einzelnen Parteien zu identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu deren Gunsten oder Lasten einzusetzen. [55] Vor diesem Hintergrund ist die Bundesregierung zwar berechtigt, gegen ihre Politik gerichtete Angriffe öffentlich zurückzuweisen; dabei hat sie aber sowohl hinsichtlich der Darstellung des Regierungshandelns als auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der hieran geübten Kritik die gebotene Sachlichkeit zu wahren. Befugnis der Bundesregierung zur Öffentlichkeitsarbeit Vgl. BVerfGE 105, 279, 302, 304-307 Gefahr: Verzerrung des politischen Wettbewerbs, weil der Bundesregierung Mittel zur Verfügung stehen, die eine Partei nicht hat. Grenze der Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit: Werbung für eine bestimmte Partei Konsequenz: Bundesregierung muss sachlich bleiben © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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