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RA 06/2018 - Entscheidung des Monats

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320 Öffentliches Recht

320 Öffentliches Recht RA 06/2018 I. Rehabilitationsinteresse Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse könnte aber unter dem Gesichtspunkt des Rehabilitationsinteresses vorliegen. Rehabilitationsinteresse = öffentlich wahrnehmbare, andauernde Stigmatisierung des Betroffenen. Maßstab: Objektive Betrachtungsweise. Rehabilitationsinteresse (-), weil Auflage abstrakt-generell formuliert ist und nicht die Stigmatisierung der M bezweckt, sondern den Konflikt der Glaubensfreiheit der M mit dem staatlichen Neutralitätsgebot lösen soll. Jedenfalls keine Fortdauer der Stigmatisierung, da Eintrag in Personalakte nicht öffentlich bekannt „[32] […] Ein Rehabilitationsinteresse liegt nur vor, wenn von der ursprünglichen Maßnahme eine diskriminierende Wirkung ausgeht, die auch nach der Erledigung der Maßnahme noch fortwirkt. Die diskriminierende Wirkung muss grundsätzlich von der erledigten Maßnahme selbst ausgehen und über die bloße Behauptung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme hinausgehen. Das Verlangen nach Rehabilitierung begründet […] darüber hinaus nur dann ein Feststellungsinteresse, wenn es bei vernünftiger Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalls auch als schutzwürdig anzuerkennen ist. […] Maßgebend ist […], ob bei objektiver und vernünftiger Betrachtungsweise abträgliche (Nach-) Wirkungen der Maßnahme fortbestehen, denen durch eine gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns wirksam begegnet werden könnte. Hinzu kommt, dass sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergeben muss, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder in seinem sozialen Umfeld herabzusetzen. Diese Stigmatisierung muss deshalb Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern. [33] Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die streitige Auflage führte nicht zu einer Stigmatisierung der Klägerin. Vielmehr diente die Auflage der Sicherung des staatlichen Neutralitätsgebots. […] Durch das Tragen religiös konnotierter Kleidungsstücke oder Symbole kann es zu einem Konflikt zwischen der Glaubensfreiheit einerseits und dem staatlichen Neutralitätsgebot andererseits kommen. In dem Versuch des Beklagten, diesen Konflikt durch die streitige Auflage zu lösen, liegt daher weder eine Diskriminierung der Klägerin noch eine Stigmatisierung in Form eines ethischen Unwerturteils, das geeignet wäre, das soziale Ansehen der Klägerin herabzusetzen. Es lässt sich weder eine Ehrverletzung feststellen, noch enthält die Auflage einen persönlichen Vorwurf oder setzte die Klägerin sonst irgendeinem persönlichen Makel aus. Insoweit ist auch von Bedeutung, dass die Auflage abstrakt-generell formuliert ist und nicht allein die Person der Klägerin in den Blick genommen hat. Damit fehlt es an einem konkreten, personenbezogenen Vorwurf. Auch eine Beschränkung des Verbots des Tragens religiöser Symbole allein auf (weibliche) muslimische Religionsangehörige ist mit der streitigen Auflage ersichtlich nicht verbunden, sondern sie erfasst auch religiöse Symbole u. dgl. von Angehörigen sonstiger Religionsgruppen. [35] Selbst unterstellt, eine Stigmatisierung oder Rufschädigung der Klägerin läge vor, besäße die Klägerin gleichwohl kein Rehabilitationsinteresse. Die Stigmatisierung bzw. Rufschädigung dauerte nicht bis in die Gegenwart fort, sondern realisierte sich ausschließlich während der Zivilrechtsstation. Die Klägerin ist aber nicht mehr Rechtsreferendarin, […]. Der Umstand, dass die Auflage nach wie vor in der Personalakte dokumentiert wird, ändert daran nichts. Die Klägerin kann sich diesbezüglich nicht mehr auf eine auch für Außenstehende erkennbare fortdauernde Stigmatisierung durch die (aufgehobene) Auflage berufen, die © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2018 Öffentliches Recht 321 geeignet wäre, ihr Ansehen in der Öffentlichkeit und in ihrem sozialen Umfeld herabzusetzen. Bei einer Bewerbung der Klägerin ist deren Eignung erneut zu prüfen. Ihre fachliche Eignung ergibt sich aus der Note in der 2. Juristischen Staatsprüfung.“ Zudem kein Hindernis bei späterer Bewerbung Demnach weist M kein rechtlich anerkennenswertes Rehabilitationsinteresse auf. II. Tiefgreifender Grundrechtseingriff, der sich typischerweise kurzfristig erledigt Das erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse könnte sich aber aus einem tiefgreifenden Eingriff in die Grundrechte der M ergeben, der sich typischerweise kurzfristig erledigt. Konkret könnte vor allem die Glaubensfreiheit der M aus Art. 4 I, II GG betroffen sein. „[40] Eine einem Rechtsreferendar auferlegte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen er als Repräsentant des Staates wahrgenommen wird oder als solcher wahrgenommen werden könnte, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Sie stellt den Betroffenen vor die Wahl, entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihm als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten. Die Klägerin kann sich auch als in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis befindliche Rechtsreferendarin auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen; ihre Grundrechtsberechtigung wird durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt. Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich deshalb auch im Rahmen eines juristischen Vorbereitungsdienstes auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. [41] Mit der Auflage war jedoch kein tiefgreifender Grundrechtseingriff verbunden. Die Auflage griff nur zeitlich und örtlich beschränkt in die Grundrechte der Klägerin ein. Die Klägerin wurde ausschließlich von der Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung im Rahmen der Referendarausbildung i.S.d. § 10 Satz 2 GVG ausgeschlossen, soweit sie dabei das Kopftuch tragen wollte […]. So erstreckte sich das Verbot nur auf den Zeitraum einer mündlichen Verhandlung und das Platznehmen hinter der Richterbank. Hingegen blieben die übrigen, weit überwiegenden Ausbildungsinhalte im Rahmen der Einzelausbildung oder der Arbeitsgemeinschaften unberührt. Die Klägerin konnte deshalb grundsätzlich ein normales Referendariat von zweijähriger Dauer ableisten. Lediglich an einem Tag hatte sie - anders als ihre Mitreferendarin - hierbei nicht die Möglichkeit, am Richtertisch in den Sach- und Streitstand einzuführen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rechtsreferendare keinen Anspruch auf Übernahme und Durchführung solcher Tätigkeiten haben. Es kommt durchaus auch vor, dass Referendare während der Zivilstation überhaupt keine richterliche Tätigkeit wahrnehmen. Angesichts dessen, dass sich die Auflage nur an einem Tag der Zivilstation für kurze Zeit ausgewirkt hat, ist nicht von einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff auszugehen. Neben Art. 4 I, II GG kommen als weitere betroffene Grundrechte Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG (Schutz der persönlichen Identität), Art. 3 I, III 1 GG und Art. 12 I GG in Betracht. Eingriff in SB des Art. 4 I, II GG (+) BVerfG, Beschluss vom 27.6.2017, 2 BvR 1333/17, juris Rn 37 Besonderes Gewaltverhältnis (-) BVerfG, Beschluss vom 27.6.2017, 2 BvR 1333/17, juris Rn 38 Aber: GR-Eingriff nicht tiefgreifend, da zeitlich und örtlich beschränkt © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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