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RA 06/2019 - Entscheidung des Monats

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Keine andere Problematik belastet bis heute das Verhältnis zwischen Ärzten und Juristen so sehr wie die Diskussion um „wrongful life“. Im „Röteln-Fall“ des BGH (Urteil vom 18.01.1983, VI ZR 114/81) war die Kindsmutter während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt, der behandelnde Arzt hatte dies nicht erkannt, weshalb ein erlaubter Schwangerschaftsabbruch unterblieb und das Kind schwerstgeschädigt zur Welt kam. Der Senat verneinte Ansprüche des Kindes auf Schadensersatz, weil es sich einer allgemeinverbindlichen Beurteilung entziehe, ob Leben mit schweren Behinderungen (wrongful life) gegenüber der Alternative des Nichtlebens überhaupt im Rechtssinne einen Schaden darstelle. Ob die Tatsache der Existenz eines ungewollten Kindes als Schaden für die Eltern in Betracht kommen kann, verneinte später das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 ff.). Ob die Unterhaltspflicht der Eltern für ein ungewolltes Kind ein Schaden sein kann, bejahte der BGH (Urteil vom 18.03.1980, VI ZR 105/78), verneinte der 2. Senat des Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 ff.), hingegen sprach sich der 1. Senat dafür aus (BVerfGE 96, 375 ff.). Der vorliegende Fall betrifft lebensverlängernde Maßnahmen und greift die in der Rechtsprechung zum „wrongful life“ entwickelten Grundsätze auf.

286 Zivilrecht

286 Zivilrecht RA 06/2019 Behandlung wegen einer Gallenblasenentzündung mit zwei Abszessen. Am 8. Oktober 2011 erfolgte eine stationäre Aufnahme aufgrund einer Aspirationspneumonie. Am 19. Oktober 2011 verstarb der Patient im Krankenhaus. K meint, die Sondenernährung sei spätestens ab Anfang 2010 weder medizinisch indiziert noch durch einen feststellbaren Patientenwillen gerechtfertigt gewesen. Sie habe vielmehr zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens des Patienten ohne Aussicht auf Besserung des gesundheitlichen Zustands geführt. B sei daher verpflichtet gewesen, das Therapieziel dahingehend zu ändern, das Sterben des Patienten unter palliativmedizinischer Betreuung durch Beendigung der Sondenernährung zuzulassen. K moniert, B habe den Betreuer nicht hinreichend darüber aufgeklärt, dass für die künstliche Ernährung keine medizinische Indikation (mehr) bestanden habe. Durch die Fortführung der Sondenernährung und das Fortdauernlassen der Schmerzen und Leiden seien der Körper und das Persönlichkeitsrecht des Patienten verletzt worden. K fordert aus ererbtem Recht Schmerzensgeld und Ersatz der im streitgegenständlichen Zeitraum entstandenen Behandlungs- und Pflegeaufwendungen in Höhe von 52.952 €, die ohne die Behandlung nicht entstanden wären, da der Patient dann nicht mehr gelebt hätte. Zu Recht? PRÜFUNGSSCHEMA A. Anspruch aus §§ 280 I, 249, 253 II BGB I. Erbenstellung des K II. Schuldverhältnis III. Pflichtverletzung IV. Vertretenmüssen V. Ersatzfähiger und kausaler Schaden B. Ergebnis LÖSUNG Die streitgegenständliche Pflichtverletzung betraf P zu dessen Lebzeiten, folglich eine Zeit vor Inkrafttreten des PatientenRG. Nach heutiger Rechtslage läge ein Behandlungsvertrag gem. § 630a BGB vor. § 630b BGB verweist auf die Regeln des Dienstvertrages, soweit die §§ 630c ff. BGB nichts anderes bestimmen. Der erste Senat des OLG München (Urteil vom 21.12.2017, 1 U 454/17) hatte in der Vorinstanz eine solche Pflichtverletzung bejaht und dem Kläger ein ererbtes Schmerzensgeld zugesprochen. Der BGH ließ in der hier besprochenen Entscheidung offen, ob eine Pflichtverletzung vorlag, weil er den Anspruch aus einem anderen Grund verneinte. A. Anspruch aus §§ 280 I, 249 I, 253 II BGB K könnte aus ererbtem Recht gegen B einen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie Ersatz der für die Behandlungs- und Pflegeaufwendungen gezahlten 52.952 € aus §§ 280 I, 249 I, 253 II BGB haben. I. Erbenstellung des K K ist Erbe des P und der Schmerzensgeldanspruch vererblich. II. Schuldverhältnis Der Behandlungsvertrag war bis zum Inkrafttreten des PatientenRG am 26.02.2013 ein besonderer Dienstvertrag im Sinne des § 611 BGB. III. Pflichtverletzung des B B muss eine Pflicht aus dem Behandlungsvertrag verletzt haben. Hier könnte B gegenüber P die ihm aus § 1901b I BGB in Verbindung mit dem Behandlungsvertrag erwachsenden Pflichten verletzt haben. Danach hat der behandelnde Arzt zu prüfen, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des zur Entscheidung selbst nicht mehr fähigen Patienten indiziert ist, und diese Maßnahme mit dem Betreuer unter Berücksichtigung des Patientenwillens zu erörtern. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2019 Zivilrecht 287 Der Arzt schuldet mithin dem Betreuer eine Aufklärung entsprechend den Vorgaben der Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, die seit dem 26.02.2013 in § 630e I BGB normiert sind. Auf dieser Grundlage obliegt dem Betreuer sodann die Entscheidung darüber, ob er in die ärztliche Maßnahme nach § 1901a BGB einwilligt oder sie untersagt. B war innerhalb seiner Aufklärungspflicht jedenfalls verpflichtet, mit dem Betreuer die Frage der Fortsetzung oder Beendigung der Sondenernährung eingehend zu erörtern, was unterblieben ist. Nach allgemeinen Grundsätzen des Arzthaftungsrechts muss der Behandelnde beweisen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte. Dies ist B nicht gelungen. Eine Pflichtverletzung liegt infolge der Nichtaufklärung vor. IV. Vertretenmüssen B hat sich von der Vermutung des Verschuldens gem. § 280 I 2 BGB nicht entlastet und hat damit die Pflichtverletzung auch zu vertreten. Der Beklagte kann sich nicht auf einen unvermeidbaren Rechtsirrtum berufen, weil die für den vorliegenden Fall relevante Rechtsfrage jedenfalls mit Einführung der Erörterungspflicht über die medizinisch indizierte Maßnahme zwischen Arzt und Betreuer des Patienten in § 1901b I BGB geklärt war. V. Ersatzfähiger und kausaler Schaden Fraglich ist allerdings, ob die geltend gemachten Schäden ersatzfähig sind und kausal auf der Pflichtverletzung beruhen. 1. Schmerzensgeld gem. § 253 II BGB K erhielte aus ererbtem Recht Schmerzensgeld, wenn der Schmerzensgeldanspruch in der Person des P entstanden ist. Dann müsste gem. § 253 II BGB ein solcher immaterieller Schaden entstanden sein. [13] Für die Bestimmung eines Schadens bedarf es eines Vergleichs der bestehenden Gesamtlage mit der Lage, die ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte. Ein etwaiger Nachteil, der sich bei diesem Vergleich ergibt, ist nur dann ein Schaden, wenn die Rechtsordnung ihn als solchen anerkennt. [14] Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Hier steht der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Die Option eines Weiterlebens ohne oder mit weniger Leiden gab es nicht. Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben - auch ein leidensbehaftetes Weiterleben - als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). [18] Dem Berufungsgericht ist darin Recht zu geben, dass nicht alle Erwägungen des Senatsurteils zum sogenannten Rötelnfall auf die vorliegende Fallkonstellation übertragbar sind, wie dies in dem Senatsurteil bereits angedeutet wurde. Ging es damals um ein leidensbehaftetes Leben, dessen Beginn nicht durch einen Schwangerschaftsabbruch verhindert wurde, geht es vorliegend um ein leidensbehaftetes Weiterleben, das nicht durch einen Behandlungsabbruch beendet wurde. Die Fallkonstellationen unterscheiden sich vor allem dadurch, dass dem Menschen Heute legt § 630e BGB dies ausdrücklich fest. Ständige Rechtsprechung des BGH, z.B. Urteil vom 22.01.1980, VI ZR 263/78 Seit dem 26.02.2013 ist dies in § 630h BGB geregelt. Kein unvermeidbarer Rechtsirrtum seitens B BGH, Urteil vom 18.01.1983, VI ZR 114/81; Münch.Komm./Oetker, BGB, § 249 Rn 17 Hier entwickelt der BGH seine Rechtsprechung zum „wrongful life“ weiter. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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