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RA 07/2021 - Entscheidung des Monats

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Der VGH Kassel hatte zu prüfen, ob das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters einer Versammlung auch die Befugnis umfasst, eine Fahrrad-Demo auf einer Autobahn durchzuführen.

370 Öffentliches Recht

370 Öffentliches Recht RA 07/2021 Problem: Fahrrad-Demo auf der Autobahn Einordnung: Versammlungsrecht VGH Kassel, Beschluss vom 04.06.2021 2 B 1193/21 LEITSATZ (DER REDAKTION) Die spezifische Widmung der Autobahnen für den überörtlichen Kraftfahrzeugverkehr schließt deren Nutzung für Versammlungszwecke nicht generell aus. Während bei innerörtlichen Straßen und Plätzen, bei denen die Widmung die Nutzung zur Kommunikation und Informationsverbreitung einschließt, Einschränkungen oder gar ein Verbot aus Gründen der Verkehrsbehinderung nur unter engen Voraussetzungen in Betracht kommen, darf den Verkehrsinteressen bei öffentlichen Straßen, die allein dem Straßenverkehr gewidmet sind, größere Bedeutung beigemessen werden, so dass das Interesse des Veranstalters und der Versammlungsteilnehmer an der ungehinderten Nutzung einer solchen Straße gegebenenfalls zurückzutreten hat. EINLEITUNG Der VGH Kassel hatte zu prüfen, ob das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters einer Versammlung auch die Befugnis umfasst, eine Fahrrad-Demo auf einer Autobahn durchzuführen. SACHVERHALT Der Antragsteller meldete bei dem Antragsgegner für Sonntag, den 6.6.2021, in der Zeit von 10:00 bis 13:00 Uhr eine Fahrrad-Demonstration unter dem Motto „Klimagerechte Fairkehrswende Jetzt! Autobahn Stop!“ an, die Teil der bundesweiten dezentralen Aktionstage „Sozial- und klimagerechte Mobilitätswende jetzt!“ am 5. und 6.6.2021 sein soll. Der über eine Strecke von rund 24 Kilometern geplante Aufzug soll ab der Ochsenwiese in Fulda über die A 7 in Richtung Süden und ab Eichenzell über die A 66 und die B 27 zurück nach Fulda führen und dort am Umweltzentrum enden. Die zuständige Behörde untersagte formell ordnungsgemäß die Nutzung eines ca. 9 Kilometer langen Teilstücks über die Autobahnen A 7 und A 66 unter Verweis auf das hohe Verkehrsaufkommen im Zuge des erwarteten Rückreiseverkehrs nach Fronleichnam. Stattdessen wurde eine Alternativroute über die Bundesstraße B 27 festgelegt. Ist die Verfügung rechtmäßig? [Anm.: In Hessen existiert kein Landesversammlungsgesetz.] Obersatz Da es in Hessen kein LandesversammlungsG gibt, ist gem. Art. 125a I 1 GG das VersammlG des Bundes weiterhin anwendbar. LÖSUNG Die Verfügung ist rechtmäßig, wenn sie auf einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage beruht, die formell und materiell rechtmäßig angewendet wurde. I. Ermächtigungsgrundlage für die Verfügung Als Ermächtigungsgrundlage für die Verfügung kommt § 15 I VersammlG (i.V.m. Art. 125a I 1 GG) in Betracht. II. Formelle Rechtmäßigkeit der Verfügung Die Verfügung wurde von der zuständigen Behörde formell ordnungsgemäß erlassen. III. Materielle Rechtmäßigkeit der Verfügung Die Verfügung ist materiell rechtmäßig, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 I VersammlG vorliegen und das auf der Rechtsfolgenseite eröffnete behördliche Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 07/2021 Öffentliches Recht 371 1. Versammlung Bei der vom Antragsteller angemeldeten Veranstaltung handelt es sich um eine Versammlung i.S.d. VersammlG und des Art. 8 I GG. Fraglich ist jedoch, ob auch der allein strittige Ort der Versammlung grundrechtlich geschützt ist. „[…] Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll. […] Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt. Es umfasst nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Rechtsgüterkollisionen ist im Rahmen versammlungsrechtlicher Verfügungen etwa durch Auflagen oder Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen. Wichtige Abwägungselemente sind dabei unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der blockierten Tätigkeit Dritter, aber auch der Sachbezug zwischen den beeinträchtigten Dritten und dem Protestgegenstand. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben. Die spezifische Widmung der Autobahnen für den überörtlichen Kraftfahrzeugverkehr schließt deren Nutzung für Versammlungszwecke nicht generell aus. Während bei innerörtlichen Straßen und Plätzen, bei denen die Widmung die Nutzung zur Kommunikation und Informationsverbreitung einschließt, Einschränkungen oder gar ein Verbot aus Gründen der Verkehrsbehinderung nur unter engen Voraussetzungen in Betracht kommen, darf den Verkehrsinteressen bei öffentlichen Straßen, die allein dem Straßenverkehr gewidmet sind, größere Bedeutung beigemessen werden, so dass das Interesse des Veranstalters und der Versammlungsteilnehmer an der ungehinderten Nutzung einer solchen Straße gegebenenfalls zurückzutreten hat.“ Dass die Veranstaltung selbst als Versammlung zu qualifizieren ist, ist so eindeutig, dass dies mit einem kurzen Ergebnissatz festgestellt werden kann. Näheres zum Versammlungsbegriff bei: Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 463-480. Problem: Umfasst das Versammlungsrecht auch die freie Wahl des Versammlungsortes? Selbstbestimmungsrecht ist nicht grenzenlos Wichtige Überlegungen des Gerichts, die aber genau genommen nicht zum Schutzbereich, sondern zur Verhältnismäßigkeitsprüfung gehören. Auch Autobahnen können Orte von Versammlungen sein (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 31.7.2008, 6 B 1629/08, juris Rn 12; OVG Magdeburg, Beschluss vom 27.7.1993, 2 M 24/93, juris Rn 8). Aber: Verkehrsinteressen haben hier größeres Gewicht als bei innerörtlichen Straßen • Versammlungsrecht muss evtl. in der Abwägung zurücktreten. Daher können auch Bundesautobahnen Orte einer Versammlung sein, sodass sich das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters auf sie erstreckt. 2. Öffentlich / unter freiem Himmel Die Versammlung ist – wie von der Überschrift des Abschnitt III. des VersammlG gefordert – öffentlich und findet unter freiem Himmel statt. 3. Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung § 15 I VersammlG setzt weiterhin voraus, dass bei Durchführung der Versammlung eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht. Angesichts des grundrechtlichen Schutzes der Versammlungsfreiheit durch Art. 8 I GG und ihrer Bedeutung in einem demokratischen Auch hier genügt ein kurzer Ergebnissatz. Näheres bei Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 495, 502 BVerfGE 69, 315, 353f. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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