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RA Digital - 01/2019

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

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RA 01/2019 Öffentliches Recht 31 „[38] Als Kriterien für die jeweilige Bedeutung der politischen Parteien kommen darüber hinaus die Dauer des Bestehens der Partei, ihre Kontinuität, ihre Mitgliederzahlen, Umfang und Ausbau ihrer Organisation, ihre Vertretung im Parlament und ihre Beteiligung an der Regierung in Bund und Ländern in Betracht. [39] Bei Zugrundelegung dieser zusätzlichen Bewertungskriterien ergibt sich ein anderes Gesamtbild. [40] Die FDP […] wurde 1948 gegründet. In den Jahren 1949 bis 1956, 1961 bis 1966, 1969 bis 1998 und 2009 bis 2013 war sie als jeweils kleinerer Koalitionspartner an der Bundesregierung beteiligt. Von 1949 bis 2013 war sie durchgehend im Deutschen Bundestag vertreten, 2017 zog die Partei wieder in den Bundestag ein. […] Seit der Landtagswahl in Bayern vom vergangenen Wochenende ist die FDP in zehn Landesparlamenten vertreten und aktuell an drei Landesregierungen (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein) beteiligt. Sie war darüber hinaus seit ihrer Gründung in fast jedem Bundesland, außer Berlin, ein oder mehrmals an der Regierung beteiligt. [41] Die Partei Die Linke besteht als solche seit 2007, führt ihre Geschichte aber auf die Partei des Demokratischen Sozialismus - PDS - zurück, welche nach dem Mauerfall 1989 aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hervorging. Selbige bestand seit 1946 und war die Staatspartei der DDR. Bei der Bundestagswahl 2017 erzielte die Linke 9,2 % der Stimmen und lag damit knapp vor Bündnis 90/Die Grünen. In den neuen Bundesländern ist Die Linke in allen Landesparlamenten vertreten. In Brandenburg ist sie seit 2009 Juniorpartner einer rot-roten Koalition und in Thüringen stellt sie seit 2014 in einer rot-rot-grünen Koalition erstmals den Ministerpräsidenten in einem deutschen Bundesland. In Berlin regiert sie seit 2016 ebenfalls in einer rot-rot-grünen Koalition unter Führung der SPD mit. In den Parlamenten der alten Bundesländer ist sie in Hamburg, Bremen, Hessen sowie im Saarland vertreten, wobei in Letzterem in der Vergangenheit höhere Wahlergebnisse erzielt wurden als in allen anderen alten Bundesländern. Jura Intensiv [42] Demgegenüber besteht der Antragsteller erst seit wenigen Jahren. Die Partei wurde 2013 gegründet. Weder auf Bundes- noch auf Landesebene ist oder war sie je an einer Regierung beteiligt. [43] Diese unterschiedliche Bedeutung der drei Parteien spiegelt sich auch in ihren Mitgliederzahlen wieder. Den jüngsten Erhebungen zufolge hat die FDP 63.050 Mitglieder, Die Linke 62.300, gegenüber nur 27.621 Mitgliedern bei der AfD. [44] Die Linke und die FDP sind demgemäß etablierte Parteien mit jahrzehntelanger Kontinuität, vielfacher Regierungsbeteiligung und deutlich höherer Mitgliederzahl als der Antragsteller. Beide Parteien sind in etlichen Landesparlamenten vertreten und auch aktuell an Landesregierungen beteiligt. Demgegenüber kann der Antragsteller lediglich seinen Einzug in bisher fünfzehn von sechzehn Landesparlamenten zu seinen Gunsten anführen. Weitere Abstufungskriterien (vgl. BVerfG, Urteil vom 3.12.1968, 2 BvE 1/67, juris Rn 219; Morlok, ParteiG, § 5 Rn 10) Politische Bedeutung der FDP Politische Bedeutung Die Linke AfD besteht erst seit 2013 Geringere Mitgliederzahl der AfD im Verhältnis zu FDP und Die Linke Fazit: Bei einer Gesamtbetrachtung sind FDP und Die Linke bedeutsamer als die AfD. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

32 Öffentliches Recht RA 01/2019 Ist die Wahlprognose ein zulässiges Ermessenskriterium? Ja bzgl. Teilnahme an Diskussionsrunden (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 20.9.2017, 1 S 2139/17, juris Rn 8) Nein bzgl. Verteilung von Wahlwerbeflächen Vgl. Rennert, JuS 2008, 211, 212 [45] Anders als der Antragsteller meint, kann er eine vermeintlich größere oder gleich große Bedeutung wie die FDP und Die Linke nicht mit in Wahlprognosen vorhergesagten größeren Stimmanteilen bei der bevorstehenden Landtagswahl begründen. [46] Zwar hat die obergerichtliche Rechtsprechung in Fällen, in denen das Teilhaberecht an einer Diskussionsrunde streitig war, auch fundierte Wahlprognosen für die Bedeutung einer Partei als maßgebendes Kriterium herangezogen. [47] Geht es jedoch - wie hier - um die Verteilung von quantitativ begrenzten Wahlwerbeflächen, sind solche Vorhersagen angesichts ihrer geringen Verlässlichkeit und der Schwankungen, denen sie erfahrungsgemäß unterliegen, kein taugliches Kriterium, um die mengenmäßige Verteilung von Wahlwerbeflächen unter den Parteien daran auszurichten.“ Somit hat die Stadt Hanau ihr Auswahlermessen im Ergebnis fehlerfrei ausgeübt, sodass der Anspruch der AfD auf ermessensfehlerfreie Entscheidung durch Erfüllung erloschen ist. Folglich kann die AfD nicht verlangen, an allen 35 Standorten je ein Wahlplakat aufhängen zu dürfen. FAZIT Die Entscheidung des VGH Kassel vermag nicht restlos zu überzeugen. Schon die normative Anknüpfung an § 20 I, III HGO ruft Kritik hervor. Die in § 20 III HGO vorgesehene Gleichstellung juristischer Personen und Personenvereinigungen mit den Einwohnern i.S.v. § 20 I HGO ist nämlich nur gerechtfertigt, wenn diese Vereinigungen zumindest ihren Sitz in der Gemeinde haben und ihre Aktivitäten primär in der Gemeinde entfalten. Das ist bei dem Landesverband einer politischen Partei gerade nicht der Fall. Daher ist es überzeugender, in einer solchen Konstellation als Anspruchsgrundlage für die Nutzung einer öffentlichen Einrichtung auf Art. 3 I, 21 I GG i.V.m. § 5 I ParteiG zurückzugreifen, die auch ortsfremden Vereinigungen einen Anspruch vermitteln können. Die sehr oberflächliche Prüfung des Tatbestandes des § 20 I, III HGO ist mutmaßlich dadurch begründet, dass sich die rechtlichen Schwierigkeiten für den VGH erst auf der Rechtsfolgenseite zeigen. Aber auch insoweit ziehen die Ausführungen des Gerichts Kritik auf sich. Es vermag nicht recht einzuleuchten, warum fundierte Wahlprognosen zwar ein Auswahlkriterium für die Teilnahme an politischen Diskussionsrunden sind, nicht aber für die Verteilung von Wahlwerbeflächen. Hier dürfte also in einer Klausur eine abweichende Meinung gut vertretbar sein. Für das Examen weiterhin relevant sind die vom VGH aufgelisteten anderen Abstufungskriterien (Dauer des Bestehens der Partei, ihre Kontinuität, ihre Mitgliederzahlen, Umfang und Ausbau ihrer Organisation, ihre Vertretung im Parlament und ihre Beteiligung an der Regierung in Bund und Ländern), die man sich einprägen sollte. Hinzuweisen ist abschließend noch auf Folgendes: das rechtswidrige ausschließliche Abstellen der Stadt Hanau auf das Ergebnis der letzten Landtagswahl führt nicht zu einem Bescheidungstenor analog §113 V 2 VwGO, weil der in der vorliegenden Eilsituation untauglich ist (Gerichtsentscheidung am 17.10.2018, Landtagswahl am 28.10.2018). Daher hat der VGH die Spruchreife selbständig hergestellt, indem er die zulässigen Auswahlkriterien ermittelt und auf den konkreten Fall angewendet hat. Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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