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RA Digital - 01/2021

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34 Öffentliches Recht

34 Öffentliches Recht RA 01/2021 Der VGH Kassel ist der Meinung, § 28 I 1, 2 IfSG sei hinreichend bestimmt und genüge daher dem Parlamentsvorbehalt, es handele sich also nicht um eine unzulässige Globalermächtigung. Dieses Argument kann kaum überzeugen: ein Untätigbleiben des Bundesgesetzgebers kann dogmatisch nicht rechtfertigen, dass per Rechtsverordnung des Landes weitreichend in die Grundrechte eingegriffen werden darf. Unproblematisch (BGBl. 2020 I S. 587 ff.; BT-Drucks 19/18111) erhalten hat, jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht zu beanstanden. Die Verordnungsermächtigung verletzt insbesondere weder das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG noch den Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG und die Bestimmungen der Corona- Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung finden in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 eine hinreichende gesetzliche Grundlage. An dieser Einschätzung hält der Senat auch angesichts der nunmehr seit ca. neun Monaten andauernden Pandemiesituation weiterhin fest. Insbesondere geht der Senat davon aus, dass im Rahmen einer nur möglichen summarischen Prüfung im vorliegenden Kontext die Anforderungen des Gesetzesvorbehalts nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG gewahrt sind. Dass die bisherigen Verordnungen noch nicht auf weiteren Konkretisierungen des Maßnahmenkataloges durch den Bundesgesetzgeber beruhen, obwohl er zwischenzeitlich die Möglichkeit dazu gehabt hätte, spricht jedenfalls nicht dafür, dass der Bundesgesetzgeber derartige Verordnungsregeln missbilligen würde, weil sie über die bestehende Verordnungsermächtigung hinausgehen würden. […] Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat der Bundesgesetzgeber bewusst eine offene Generalklausel geschaffen, ohne den zuständigen Infektionsschutzbehörden eine unzulässige Globalermächtigung zu erteilen. Die Voraussetzungen eines behördlichen Einschreitens sind klar festgelegt und finden ihre Begrenzung im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Indem der Gesetzgeber in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG vorgesehen hat, dass die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten kann (womit im Regelfall Eingriffe in die durch Art. 12 GG geschützten Grundrechte verbunden sind), hat er deutlich gemacht, dass auch weitreichende Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit in Betracht kommen können. Dies umfasst grundsätzlich auch die Schließung von Gewerbebetrieben mit Publikumsverkehr als mögliche Schutzmaßnahme.“ Demnach genügen § 32 S. 1, 2 i.V.m. § 28 I 1 1. Hs. IfSG den verfassungsrechtlichen Anforderungen und sind somit eine wirksame Rechtsgrundlage für die umstrittene Bestimmung der CoKoBeV. Jura Intensiv II. Formelle Rechtmäßigkeit der CoKoBeV In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken an der Rechtmäßigkeit der CoKoBeV. III. Materielle Rechtmäßigkeit der CoKoBeV 1. Tatbestand Der Tatbestand liegt so eindeutig vor, dass ein Ergebnissatz genügt. Problematisch ist allein die Vereinbarkeit mit den Grundrechten. In der Respr. geklärt ist, dass sich Maßnahmen nach § 28 I 1, 2 IfSG auch gegen sog. Nichtstörer richten dürfen (vgl. z.B. OVG Münster, Beschluss vom 23.6.2020, 13 B 695/20.NE, RA 2020, 427, 429) „Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind mit Blick auf die andauernde Pandemielage wegen des neuartigen Coronavirus erfüllt, weshalb die zuständigen Stellen zum Erlass notwendiger Schutzmaßnahmen verpflichtet sind.“ 2. Rechtsfolge Auf der Rechtsfolgenseite eröffnet § 32 S. 1 IfSG dem Verordnungsgeber ein Ermessen. Dieses muss er rechtmäßig ausgeübt haben. Fraglich ist hier nur die Vereinbarkeit der streitgegenständlichen Bestimmung mit den Grundrechten aus Art. 3 I, 12 I GG. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 01/2021 Öffentliches Recht 35 a) Vereinbarkeit mit Art. 12 I GG „Die mit der Verordnung vorgenommenen Auflagen für Gaststätten beinhalten für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, nämlich sämtliche Betreiber von Gaststätten, einen Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Berufsausübungsfreiheit. Dieser ist jedoch durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt und insbesondere verhältnismäßig. Der Eingriff erfolgt zu einem legitimen Zweck, nämlich dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere einer Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems. Die Maßnahme dürfte auch geeignet und notwendig sein, um dieses Ziel zu erreichen. Denn Gaststätten laden regelmäßig neben dem Verzehr von Speisen und Getränken zu sozialen Kontakten und Begegnungen ein. Ihr Besuch ist nicht nur auf den reinen Konsum von Getränken und/oder Mahlzeiten gerichtet, sondern auch darauf, dort mit anderen in Gemeinschaft zu verweilen und gibt die Möglichkeit zu vielfältigen Kontakten mit anderen Personen. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu Gaststätten und die Attraktivität des öffentlichen Raum bei geschlossenen gastronomischen Einrichtungen reduziert. Dabei steht außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen. […] Zwar kann nach den Angaben des Robert-Koch-Instituts keine signifikante Anzahl an Neuinfektionen dem Infektionsumfeld der „Speisestätten“ zugeordnet werden. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, dass in Gastronomiebetrieben kein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Dagegen spricht schon die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht nachvollzogen werden konnte. Dies mildert den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich. Laut einer Studie der Universität Stanford (U.S.A.) ist gar ein Großteil der Coronainfektionen auf Superspreader-Orte wie Restaurants, Fitnessstudios und Cafés zurückzuführen. […] Dabei haben die Zahlen der täglichen Neuinfektionen insbesondere seit Anfang Oktober eine deutliche Zunahme gezeigt. Hierbei entwickelte sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen (Quelle: Robert-Koch-Institut) von Mitte Oktober mit 7.830 über 16.774 (29. Oktober) zu einem Höchstzuwachs von 23.399 (7. November) zu aktuell 21.866 (12. November). Es ist insoweit nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber bei der verfassungsrechtlich gebotenen Evaluierung der in der Corona- Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung enthaltenen Schutzmaßnahmen von nicht mehr vertretbaren Tatsachen oder Annahmen ausgegangen wäre und die Grenzen der ihm zuzugestehenden Einschätzungsprärogative überschritten hätte. […] Die Regelung erscheint bei der im Eilverfahren erforderlichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung auch angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne. Auf der einen Seite ist es der Antragstellerin und mit ihr einer Vielzahl anderer Restaurants und Gaststätten einstweilen bis zum 30. November 2020 möglich, ihre Speisen und Getränke zur Abholung und Lieferung anzubieten und damit ihrer beruflichen Betätigung zumindest in eingeschränktem Umfang nachzugehen. Auf der anderen Seite rechtfertigt der Gesundheitsschutz, insbesondere das Ziel der Verlangsamung der Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung, in der gegenwärtigen Situation einschneidende Maßnahmen wie sie der Antragsgegner Jura Intensiv 3-Stufentheorie, hier: Berufsausübungsregel Legitimer Zweck: Schutz der Gesundheit und Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems Geeignetheit und Erforderlichkeit Zentrale Argumente: • In Gaststätten geht es nicht nur um essen und trinken, sondern auch um soziale Kontakte • Kontakt in geschlossenen Räumen mit einer Vielzahl unbekannter Personen • An- und Abreise zur/von der Gaststätte bedeutet (unerwünschte) Bewegung im öffentlichen Raum Epidemiologisches Bulletin 38/2020, Stand: 17.09.2020, Infektionsumfeld von erfassten COVID-19 Ausbrüchen in Deutschland Wichtige Klarstellung, weil das in der öffentlichen Debatte regelmäßig ausgeblendet wird. www.rnd.de/gesundheit/corona Weiteres Argument: Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers Angemessenheit Außer-Haus-Verkauf/Mitnahmeangebote bleiben möglich © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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