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RA Digital - 02/2016

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Die monatliche Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

Kommentar: Sehr

Kommentar: Sehr problematisch wird es, wenn man auch Wissentlichkeit ausreichen lassen würde. Dann wäre nämlich auch der Fall erfasst, dass jemand z.B. auf eine weitere Krebstherapie verzichtet, obwohl er sicher weiß, dass dadurch der Tod früher eintritt, als wenn die Therapie fortgesetzt worden wäre. Hier drohen schwere Wertungswidersprüche in der gesetzlichen Gesamtstruktur: Einerseits stellt eine Behandlung gegen den Willen des Patienten eine Körperverletzung dar, andererseits droht die Nicht-Behandlung unter den Tatbestand des § 217 zu fallen. Soll der Arzt nun zwischen zwei Straftatbeständen auswählen, welchen er lieber erfüllen möchte?! DEFINITION Geschäftsmäßig handelt, wessen Tun auf Wiederholung angelegt ist. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat die Verfassungsmäßigkeit der Norm insoweit wegen mangelnder Bestimmtheit bezweifelt. Unbelehrbar – da augenscheinlich emotional gesteuert – spricht sich der Gesetzgeber dennoch für eine weite Interpretation aus: Unter „geschäftsmäßig“ sei das nachhaltige Betreiben oder Anbieten mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht zu verstehen. Geschäftsmäßig handele, wer die Gewährung, Verschaffung oder Vermittlung der Gelegenheit zur Selbsttötung zu einem dauernden oder wiederkehrenden Bestandteil seiner Tätigkeit mache, unabhängig von einer Gewinnerzielungsabsicht und unabhängig von einem Zusammenhang zu einer wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit. „Geschäftsmäßig“ soll dabei schon derjenige vorgehen, der eine Handlung zum ersten Mal ausführt, wenn dies „den Beginn einer auf Fortsetzung angelegten Tätigkeit darstellt“ (BT-Drucksache 18/5373, S. 17). Wer – wie Hospiz- und Palliativmediziner – regelmäßig mit Sterbenden zu tun hat und ihnen z.B. durch Überlassung von Medikamenten die Gelegenheit zur Selbsttötung gibt, handelt folglich stets auch geschäftsmäßig. § 217 StGB n.F. – Subjektiver Tatbestand: Im subjektiven Tatbestand erfordert das Gesetz neben dem Vorsatz die „Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern“. Dies soll nach dem Willen des Gesetzgebers wie folgt verstanden werden: In Bezug auf die Förderung selbst muss Absicht (i.S. eines Darauf-Ankommens) vorliegen, wohingegen im Hinblick auf die Selbsttötung dolus eventualis ausreichen soll (BT-Drucksache 18/5373, S. 19). Zwischenergebnis zur Tatbestandsmäßigkeit: Wer z.B. als Hospizarzt einem Patienten einen Raum zur Verfügung stellt, in welchem dieser z.B. nach dem Absetzen lebensnotwendiger Medikamente sterben kann, verwirklich den Tatbestand des neuen § 217. Gleiches gilt wohl auch für denjenigen Arzt, welcher einem Patienten „über das Wochenende“ z.B. Morphiumpräparate zur eigenständigen Dosierung zur Verfügung stellt, wenn diese bei zeitgleicher Einnahme zur Selbsttötung taugen würden (Auf dieser Grundlage sind Sterbehilfeorganisationen nach Art. 9 II Var. 1 GG verboten. Einschränkungsmaßstab für die Vereinigungsfreiheit sind die allgemeinen, für jedermann geltenden Strafnormen. Damit scheiden nur Gesetze aus, die sich gegen die Vereinigungsfreiheit als solche richten, ohne dass auch für den Einzelnen ein strafwürdiges Verhalten vorläge.). Schon diese Beispiele zeigen, dass die Norm verfassungsrechtlich kaum haltbar sein dürfte. Sie kriminalisiert bisher anerkannte, akzeptierte und – vor allem – notwendige palliativ-medizinische Hilfe in den Endphasen des Lebens. Rechtfertigungsgründe: Jura Intensiv Als Rechtfertigungsgrund kommt vor allem die Einwilligung in Betracht. Die geschützten Individualrechtsgüter (Lebensgefährdung und Entscheidungsfreiheit) sind disponibel (BT-Drucksache 18/5373, S. 10). Vor allem garantieren Art. 1 und 2 I GG die Freiheit, über das eigene Lebensende zu entscheiden, was auch in der Gesetzesbegründung anerkannt und mehrfach hervorgehoben wird. Ein Lippenbekenntnis, welches die politische Mehrheit nicht daran gehindert hat, das Gegenteil in § 217 StGB zu schreiben (BT-Drucksache 18/5373, S. 13). Sofern also z.B. eine Behandlung (oder auch ein Behandlungsabbruch) nach den allgemeinen Regeln zur Einwilligung gerechtfertigt ist, scheidet auch eine Strafbarkeit gem. § 217 aus. Wie generell in den Fällen des Behandlungsabbruchs wird man strenge Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit der Einwilligungserklärung zu stellen haben, um „falsche Motive“ auszuschließen, z.B. wenn alte Menschen ihren Angehörigen nicht mehr „zur Last fallen“ wollen. U.U. kommt als Rechtfertigungsgrund auch der Notstand nach § 34 StGB in Betracht. Er kann etwa dann vorliegen, wenn der Patient unerträgliche Schmerzen leidet und die (mutmaßliche) Einwilligung im Einzelfall ausscheiden sollten. Insofern dürfte die Rechtsprechung zur indirekten Sterbehilfe einschlägig sein. zum Herausnehmen Fazit: Selten schrie eine Neuregelung im StGB derart nach dem BVerfG wie der neue § 217 StGB. Es bleibt zu hoffen, dass die Staatsanwaltschaften und Gerichte sehr „gefühlvoll“ und behutsam mit dem neuen § 217 StGB umgehen werden. Vor allem bleibt die Hoffnung, dass die Anwendung der Grundsätze der (mutmaßlichen) Einwilligung § 217 StGB zur praktischen Bedeutungslosigkeit verdammen möge, sofern dadurch die Tätigkeit von Palliativmedizinern betroffen ist. Inhaltsverzeichnis

RA 02/2016 ÖFFENTLICHES RECHT Öffentliches Recht 85 Problem: Beschlagnahme eines Grundstücks zur Unterbringung von Flüchtlingen Einordnung: Polizeirecht (sog. Nichtstörer) OVG Lüneburg, Beschluss vom 01.12.2015 11 ME 230/15 EINLEITUNG Die Flüchtlingskrise hat die RA in den letzten Monaten immer wieder beschäftigt. Im Mittelpunkt standen bisher baurechtliche Entscheidungen (vgl. RA 10 und 12/2015) sowie ein redaktioneller Beitrag zu § 246 BauGB. Die nachfolgend dargestellte Entscheidung des OVG Lüneburg beleuchtet den zweiten examensrelevanten Aspekt der Flüchtlingskrise, die Inanspruchnahme privater Unterkünfte im Wege des Polizeirechts. SACHVERHALT Auf einem größeren Grundstück in Lüneburg befindet sich ein Gebäudekomplex, der früher als Kinder- und Jugendheim genutzt wurde, jedoch seit Jahren leer steht. Der damalige Eigentümer (A) entfernte teilweise die Installationen, Einbauten und Zähleranlagen für Gas, Wasser und Strom. Dann veräußerte er das Grundstück an B, der den Gebäudekomplex abreißen und stattdessen ein Wohngebäude errichten will. Mit Bescheid vom 01.10.2015 beschlagnahmte die zuständige Behörde der Stadt Lüneburg formell ordnungsgemäß das Grundstück für die Dauer von 6 Monaten, um dort Flüchtlinge unterzubringen und verfügte zugleich die Einweisung von 50 Flüchtlingen für diesen Zeitraum. B wurde eine Entschädigung von 4 €/qm zugesagt. Zur Begründung führte die Behörde im Wesentlichen aus, sie wisse nicht, wie sie die ihr zugewiesenen Flüchtlinge anders unterbringen solle. Eine Unterbringung in Hotels, Ferienwohnungen oder Pensionen scheide zum einen aus finanziellen Gründen aus, zum anderen stünden diese Unterkünfte nur zeitlich begrenzt zur Verfügung, was dazu führen würde, dass die Flüchtlinge permanent verlegt werden müssten. Ferner sei eine Verteilung von Kleinstgruppen oder gar Einzelpersonen die Folge, was angesichts des damit verbundenen Verwaltungsaufwands zu vermeiden sei. Öffentliche Einrichtungen wie Turn- und Sporthallen oder Stadthallen dienten anderen Zwecken als der Unterbringung von Menschen und scheiden daher nach Ansicht der Verwaltung von vornherein aus. Die örtliche Jugendherberge verfügt zwar über freie Kapazitäten. Die Behörde bringt jedoch vor, Lüneburg sei ein Tourismusstandort und müsse daher auch für weniger betuchte Besucher Unterkünfte zur Verfügung stellen, sodass die Jugendherberge nicht mit Flüchtlingen belegt werden könne. B sieht sich durch den Bescheid in seinem Grundrecht aus Art. 14 I 1 GG verletzt und bittet daher um Überprüfung der Rechtmäßigkeit der behördlichen Anordnungen. Jura Intensiv LÖSUNG Die behördlichen Anordnungen sind rechtmäßig, soweit sie auf einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage beruhen und diese formell sowie materiell ordnungsgemäß angewandt wurde. LEITSÄTZE 1. Zu der Frage, ob der Gesetzgeber bei einer Ausgangslage, in der sich in einer Mehrzahl von Fällen eine Notlage bei der Beschaffung von menschenwürdigen Unterkünften für Flüchtlinge abzeichnet, verpflichtet ist, die Befugnis zur Beschlagnahme privaten Eigentums für die Flüchtlingsunterbringung hinsichtlich der Eingriffsvoraussetzungen im Einzelnen zu regeln (hier offen gelassen). 2. An die Zulässigkeit einer auf die Generalklausel des § 11 Nds. SOG gestützten Beschlagnahme privater Unterkünfte zur Unterbringung von Flüchtlingen, denen unmittelbar eine Obdachlosigkeit droht, sind wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Eigentumsrecht des Grundstückseigentümers hohe Anforderungen zu stellen. Die zuständige Ordnungsbehörde muss darlegen, dass ihr zur Abwendung der Obdachlosigkeit zum einen keine eigenen menschenwürdigen Unterkünfte zur Verfügung stehen und ihr zum anderen auch die Beschaffung geeigneter anderer Unterkünfte bei Dritten auf freiwilliger Basis nicht möglich ist. Es handelt sich um mehrere Verwaltungsakte, sodass im Rahmen eines Rechtsbehelfs an § 44 VwGO zu denken wäre. Inhaltsverzeichnis

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