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RA Digital - 02/2021

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

90 Öffentliches Recht

90 Öffentliches Recht RA 02/2021 LEITSATZ (DER REDAKTION) 1. Jedenfalls mit den in § 28a IfSG ergänzend normierten Vorgaben hat der Bundesgesetzgeber seiner sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes ergebenden Pflicht, die für die Grundrechtverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen, ausreichend Rechnung getragen. 2. § 28a IfSG ist keine spezielle Ermächtigungsgrundlage, sondern präzisiert § 28 I 1, 2 IfSG auf der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite. 3. Die mit dem sog. 2. Lockdown verhängten Ausgangsbeschränkungen sind rechtmäßig. Obersatz Beachte: § 28a IfSG ist keine spezielle EGL, sondern präzisiert § 28 I 1, 2 IfSG auf Tatbestandsund Rechtsfolgenseite (vgl. Greve, NVwZ 2020, 1786, 1788). Problem: Corona-Pandemie: Ausgangsbeschränkungen Einordnung: Grundrechte/Staatsorganisationsrecht VGH Mannheim, Beschluss vom 18.12.2020 1 S 4028/20 EINLEITUNG Der Beschluss des VGH Mannheim ist eine der ersten Gerichtsentscheidungen, die sich mit dem neu erlassenen § 28a IfSG und dessen Verfassungsmäßigkeit sowie den strengen Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der sog. 2. Welle der Corona-Pandemie befassen. SACHVERHALT § 1c der Verordnung der Landesregierung von Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 30.11.2020 in der Fassung der Zweiten Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 15.12.2020 sah für den Zeitraum 16.12.2020 bis 10.1.2021 Ausgangsbeschränkungen vor. Nach § 1c I CoronaVO war der Aufenthalt außerhalb der Wohnung oder sonstigen Unterkunft in der Zeit von 5 Uhr bis 20 Uhr nur bei Vorliegen triftiger, in Nr. 1 bis 16 im Einzelnen genannter Gründe oder (Nr. 17) aus sonstigen vergleichbar gewichtigen Gründen gestattet ist. Nach § 1c II CoronaVO gilt in der Zeit von 20 Uhr bis 5 Uhr des Folgetags eine erweiterte Ausgangsbeschränkung. Der Aufenthalt außerhalb der Wohnung oder sonstigen Unterkunft ist in dieser Zeit nur bei Vorliegen der in Nr. 1 bis 11 im Einzelnen aufgezählten triftigen Gründe oder (Nr. 12) sonstiger vergleichbar gewichtiger Gründe gestattet. Antragsteller A sieht darin einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Freiheitsrechte. Es bestehe kein Grund, weshalb er seine Wohnung nachts nicht mehr zu privaten Zwecken wie etwa der Pflege eines Schrebergartens, dem Beobachten von Hirschen, der Wahrnehmung sportlicher Aktivitäten oder dem Aufsuchen eines Zigarettenautomaten verlassen können solle. Durch solche Aktivitäten würden keine Krankheiten übertragen. Darüber hinaus verlange die Verordnung für jede Handlung, die außerhalb der eigenen Wohnung vorgenommen werde, eine Rechtfertigung durch den Bürger. Sie verkehre damit den Grundsatz, dass der Staat es begründen müsse, wenn er etwas verbieten wolle, in das Gegenteil. Sie greife damit unzulässig in die von Art. 1 I 1 GG geschützte Würde des Menschen ein. Ist § 1c CoronaVO rechtmäßig? Jura Intensiv LÖSUNG § 1c CoronaVO ist rechtmäßig, wenn die Vorschrift auf einer wirksamen Rechtsgrundlage beruht, die formell und materiell rechtmäßig angewendet wurde. I. Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO Rechtsgrundlage für § 1c CoronaVO ist § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 i.V.m. § 28a I Nr. 3, II 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Fraglich ist jedoch, ob diese Normen den verfassungsrechtlichen Anforderungen, speziell dem Parlamentsvorbehalt genügen. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 02/2021 Öffentliches Recht 91 „Im Parlamentsvorbehalt wurzelnde Bedenken, die sich in Bezug auf einige der seit März 2020 zur Pandemiebekämpfung durch Rechtsverordnung normierte Maßnahmen wie beispielsweise umfassende Betriebsschließungen ergeben haben, bestehen in Bezug auf die vom Antragsteller im vorliegenden Verfahren beanstandeten Regelungen in § 1c CoronaVO aller Voraussicht nach nicht. Der Bundesgesetzgeber hatte schon bisher in § 28 IfSG selbst ausdrücklich normiert, dass die zuständige Stelle Personen insbesondere dazu verpflichten kann, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 IfSG). In dem am 19.11.2020 in Kraft getretenen § 28a IfSG hat er noch weiter konkretisierend geregelt, dass notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) für die Dauer der - wie derzeit bestehend - Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag insbesondere Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum sein können (Absatz 1 Nr. 3). Er hat weiter geregelt, dass die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung, nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken nur zulässig ist, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre (Absatz 2 Satz 1 Nr. 2). Jedenfalls mit den in § 28a IfSG nunmehr ergänzend normierten Vorgaben hat der Bundesgesetzgeber seiner sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes in seiner Ausprägung als Parlamentsvorbehalt ergebenden, im Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot wurzelnden Verpflichtung, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen, in Bezug auf die Aufenthaltsbeschränkungen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 voraussichtlich genügt.“ Jura Intensiv Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass alle der in § 28a IfSG genannten Maßnahmen voraussetzen, dass der Deutsche Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite nach § 5 I 1 IfSG feststellt. Dadurch ist die Rolle des Parlaments im Vergleich zur alten Rechtslage signifikant gestärkt worden. Gleichwohl ließe sich erwägen, dass der Bundesgesetzgeber in Anbetracht der Grundrechtsrelevanz der Infektionsschutzmaßnahmen noch detailliertere Regelungen hätte erlassen müssen. So belässt § 28a IfSG der Exekutive weiterhin einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Entscheidung über den Erlass von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, insbesondere lässt § 28a I IfSG keine Bewertung oder ein Stufenverhältnis der möglichen Maßnahmen zueinander erkennen. Dieser Überlegung kann entgegengesetzt werden, dass es dem Bundesgesetzgeber aufgrund der Dynamik des Infektionsgeschehens, das sich zudem in den Ländern, Kreisen und Gemeinden sehr unterschiedlich entwickeln kann, kaum möglich ist, abstrakt-generell vorausschauend alle Konstellationen und Entwicklungen zu regeln. Hinzu kommt, dass die Exekutive auf aktuelle Entwicklungen deutlich schneller reagieren kann, als dies in einem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren möglich ist. Der Verwaltung müssen folglich Entscheidungsspielräume verbleiben, um zeitnah Vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 6.11.2020, 1 S 3388/20, juris Rn 17-29; VGH München, Beschluss vom 29.10.2020, 20 NE 20.2360 Rn 28-37 Parlamentsvorbehalt bzgl. Ausgangsbeschränkungen schon bisher gewahrt durch § 28 I 1 Halbsatz 2 IfSG Letzte Bedenken jedenfalls jetzt ausgeräumt durch § 28a IfSG Weiteres Argument: Bundestag muss epidemische Lage feststellen, damit § 28a IfSG überhaupt anwendbar ist (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 23.12.2020, 13 B 1707/20.NE, juris Rn 36) Noch genauere Detailregelungen als diejenigen des § 28a IfSG erforderlich (vgl. Kießling/Möllers/Volkmann, Zum Reformbedarf der Eingriffsbefugnisse im Infektionsschutzgesetz, Gutachten Oktober 2020, S. 15)? Nein, dann besteht die Gefahr der „Überregulierung“, die ein schnelles Handeln der Verwaltung behindern könnte (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 23.12.2020, 13 B 1707/20.NE, juris Rn 37-39; Greve, NVwZ 2020, 1786, 1788 f.) © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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