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RA Digital - 03/2021

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144 Öffentliches Recht

144 Öffentliches Recht RA 03/2021 2. Schranken-Schranken a) Formelle Verfassungsmäßigkeit des § 68b I 1 Nr. 12, I 3 StGB i.V.m. § 436a IV StPO In formeller Hinsicht ist allein die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fraglich. Art. 74 I Nr. 1 GG („Strafrecht“) Fußfessel ist trotz gefahrenabwehrender Aspekte primär dem Strafrecht zuzuordnen. Legitimer Zweck Vgl. BT-Drs. 17/3403, S. 17 Geeignetheit = Zweckförderlichkeit Vgl. dazu BVerfGE 55, 28, 29 f. Einzelne Fälle der Zweckverfehlung führen nicht zur generellen Ungeeignetheit einer Vorschrift. Erforderlichkeit „[186] Die elektronische Aufenthaltsüberwachung unterfällt als Maßnahme der Führungsaufsicht der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes für das Strafrecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, weil sie sich als staatliche Reaktion darstellt, die – wie das Institut der Führungsaufsicht insgesamt – an die vorangegangene Begehung einer Straftat anknüpft, ausschließlich für Straftäter gilt und ihre sachliche Rechtfertigung aus der Anlasstat bezieht. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes umfasst auch die in § 463a Abs. 4 StPO erfolgte Regelung der datenschutzrechtlichen Fragen, die mit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung unmittelbar in Zusammenhang stehen.“ Mithin sind die umstrittenen Normen formell verfassungskonform. b) Materielle Verfassungsmäßigkeit des § 68b I 1 Nr. 12, I 3 StGB i.V.m. § 436a IV StPO aa) Verhältnismäßigkeit Materiell-rechtlich ist zunächst die Verhältnismäßigkeit der Vorschriften fraglich. „[260] Die elektronische Aufenthaltsüberwachung ist vornehmlich spezialpräventiv ausgerichtet. Laut der Gesetzesbegründung zielt sie darauf ab, den Täter im Sinne einer positiven und negativen Spezialprävention von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. […] Demgemäß verfolgt die Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung mit dem Schutz der Allgemeinheit vor schweren Straftaten und zugleich der entlassenen Verurteilten vor erneuter Straffälligkeit legitime Zwecke. Jura Intensiv [264] Auch wenn es bisher – soweit ersichtlich – an zweifelsfreien empirischen Nachweisen fehlt, dass die elektronische Aufenthaltsüberwachung bei der von § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB erfassten Personengruppe zu einer Verminderung des Risikos erneuter Straffälligkeit führt, kann nicht angenommen werden, dass deren Einsatz mit Blick auf die Rückfallhäufigkeit generell wirkungslos bleibt. Insoweit gilt für die elektronische Aufenthaltsüberwachung nichts anderes als für das Instrument der Führungsaufsicht insgesamt, das ungeachtet eines fehlenden empirischen Wirksamkeitsnachweises als eine zur Rückfallprävention geeignete Maßnahme qualifiziert wurde. Dem steht auch der Hinweis der Beschwerdeführer auf einzelne Fälle rückfälliger Weisungsbetroffener nicht entgegen. Daraus kann nicht auf die generelle Ungeeignetheit der „elektronischen Fußfessel“ zur Reduzierung des Rückfallrisikos geschlossen werden. [270] § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB trägt auch dem Grundsatz der Erforderlichkeit Rechnung. Gemäß § 68b Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 StGB darf eine elektronische Aufenthaltsüberwachung nur angeordnet werden, wenn die Weisung „erforderlich erscheint“, um den Betroffenen durch die Möglichkeit der Verwendung der erhobenen Daten von der Begehung schwerer Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2021 Öffentliches Recht 145 Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB abzuhalten. Das gesetzliche Regelungskonzept stellt also bereits selbst auf den Gesichtspunkt der Erforderlichkeit ab. […]“ Schließlich müssen die umstrittenen Regelungen auch angemessen sein, d.h. die Eingriffsintensität darf nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen. „[273] Die elektronische Aufenthaltsüberwachung führt zu einer ständigen Erhebung der Aufenthaltsdaten des Betroffenen und ermöglicht deren Verwendung zur Feststellung des Aufenthaltsortes nach Maßgabe von § 463a Abs. 4 StPO. Sie dringt damit tief in die […] Privatsphäre des Weisungsunterworfenen ein […]. [277] […] dient die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung dem Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit des Einzelnen sowie der Sicherheit des Staates und seiner Einrichtungen. Dabei handelt es sich um höchstrangige Verfassungswerte. [278] Zugleich ergibt sich aus der gesetzlichen Regelung, dass die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung erheblichen Einschränkungen sowohl hinsichtlich des Adressatenkreises einer solchen Weisung als auch hinsichtlich der Schwere der zu erwartenden Straftaten unterliegt. [280] Die Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung trägt auch dem Erfordernis Rechnung, dass Maßnahmen hoher Eingriffsintensität nur verhältnismäßig sind, wenn eine Gefährdung der geschützten Rechtsgüter hinreichend konkret absehbar ist. […]“ Problematisch könnte allerdings sein, dass der Gesetzgeber nicht zwingend die Einholung eines Sachverständigengutachtens vorschreibt. „[287] Verfassungsrechtlich ist dagegen nichts zu erinnern. Unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor der Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht zwingend vorgeschrieben hat, so dass diese sich lediglich im Einzelfall aus dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung ergeben kann. Ob dabei der Amtsermittlungsgrundsatz im Regelfall die Einholung eines Sachverständigengutachtens gebietet, kann für die Frage der Verfassungsgemäßheit der gesetzlichen Regelung als solcher dahinstehen.“ Jura Intensiv Angemessenheit = Zweck-Mittel- Relation Erhebliche Eingriffsintensität Schutz höchster Rechtsgüter Hohe Anforderungen an Anordnung einer elektronischen Fußfessel Voraussetzung: Begründete Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straftat Fehlende generelle Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens ist unschädlich, kann sich im konkreten Einzelfall aus der Sachaufklärungspflicht des Gerichts ergeben. Somit genügen die umstrittenen Normen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. bb) Recht auf Resozialisierung Es könnte jedoch ein Verstoß gegen das Recht auf Resozialisierung vorliegen. „[289] Vorliegend machen die Beschwerdeführer geltend, die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung habe stigmatisierende Wirkungen. Die „elektronische Fußfessel“ stelle sich als „sichtbare Brandmarkung“ dar, die jedenfalls im engeren sozialen Bereich nicht verborgen werden könne. Die jederzeitige Identifizierbarkeit als Schwerstverbrecher schränke das Intimleben und die Möglichkeiten sportlicher Betätigung wesentlich ein. Zum Prüfungsaufbau: Das kann alternativ auch in der Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Problem: Drohende Stigmatisierung © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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