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RA Digital - 04/2019

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

194 Öffentliches Recht

194 Öffentliches Recht RA 04/2019 Beachte: Art. 21 GG ist auch (ungeschriebener) Bestandteil der Landesverfassungen und damit tauglicher Prüfungsmaßstab eines LVerfG (vgl. BVerfGE 66, 107, 114; VerfGH Berlin, Urteil vom 17.3.1997, VerfGH 87/95, Rn 36). Zum Aufbau: Ein einheitliches Prüfungsschema gibt es nicht. Es bietet sich jedoch die Unterteilung in 1) Recht des Antragstellers, 2) Eingriff in dieses Recht, 3) Rechtfertigung dieses Eingriffs – also ähnlich der GR-Prüfung – an. Folge des Rechts auf Chancengleichheit: Neutralitätspflicht des Staates im politischen Wettbewerb (= keine parteiergreifenden Stellungnahmen). Voraussetzung: Handeln in amtlicher Eigenschaft Kriterien Subsumtion unter genauer Auswertung des Sachverhalts LÖSUNG M hat das Recht der AfD auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 I GG verletzt, wenn er in dieses Recht eingegriffen hat und der Eingriff nicht gerechtfertigt ist. I. Recht auf Chancengleichheit der AfD Der AfD steht das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 I GG zu. Der durch Art. 21 I GG den Parteien zuerkannte verfassungsrechtliche Status gewährleistet das Recht, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilzunehmen. „[38] Damit die Wahlentscheidung in voller Freiheit gefällt werden kann, ist es unerlässlich, dass Parteien, soweit irgend möglich, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. […] [39] Die chancengleiche Beteiligung an der politischen Willensbildung des Volkes macht es erforderlich, dass Staatsorgane im politischen Wettbewerb der Parteien Neutralität wahren. Staatsorgane sind daher verpflichtet, einseitig parteiergreifende Stellungnahmen zugunsten oder zulasten einzelner politischer Parteien zu unterlassen. Veranstaltet eine Partei eine politische Kundgebung, nimmt sie dadurch ihren Verfassungsauftrag wahr. Staatliche Organe sind deshalb verpflichtet, dies im Rahmen der ihnen obliegenden Neutralitätspflicht hinzunehmen. Daraus folgt, dass sie negative Bewertungen zu unterlassen haben, die geeignet sind, abschreckende Wirkung zu entfalten und dadurch das Verhalten potenzieller Teilnehmer an der Veranstaltung zu beeinflussen. Dies gilt nicht nur im Wahlkampf, sondern darüber hinaus auch für den politischen Meinungskampf und Wettbewerb im Allgemeinen. […]“ II. Eingriff in das Recht der AfD auf Chancengleichheit Mit seiner Twitter-Nachricht könnte M in das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 I GG eingegriffen haben. 1. Handeln in amtlicher Eigenschaft Da die skizzierte Neutralitätspflicht nur den Staat und seine Organe trifft, kann M das Recht der AfD aus Art. 21 I GG nur verletzt haben, wenn er in amtlicher Eigenschaft gehandelt hat. Jura Intensiv „[40] […] Das ist dann der Fall, wenn er Möglichkeiten nutzt, die ihm aufgrund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen, während sie den politischen Wettbewerbern verschlossen sind. Vorausgesetzt ist also, dass die Äußerung unter Rückgriff auf die einem Regierungsmitglied zur Verfügung stehenden Ressourcen erfolgt oder eine erkennbare Bezugnahme auf das Regierungsamt vorliegt und damit die Äußerung mit einer aus der Autorität des Amtes fließenden besonderen Gewichtung versehen wird. […] [44] […] Die Nachricht wurde nicht unter dem persönlichen Namen des Antragsgegners, sondern unter ausschließlicher Verwendung der Amtsbezeichnung „Der Regierende Bürgermeister von Berlin“ versandt. Dafür hat der Antragsgegner den Twitter-Account „@RegBerlin“ verwendet, der über den Internetauftritt der Senatskanzlei „https://www. berlin.de/rbmskzl/“ erreichbar ist und der auf der Seite „https://twitter. com/regberlin“ ausdrücklich als „offizieller Kanal des Regierenden Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2019 Öffentliches Recht 195 Bürgermeisters von Berlin“ bezeichnet wird. Daher besteht kein Zweifel, dass der Antragsgegner bei der Verbreitung der Nachricht in spezifischer Weise die Autorität seines Amtes in Anspruch genommen hat und der erforderliche amtliche Bezug der Nachricht bereits deshalb vorliegt.“ M hat somit in amtlicher Eigenschaft gehandelt und unterlag damit der staatlichen Neutralitätspflicht. 2. Parteiergreifende Äußerung Weiterhin müsste M die staatliche Neutralitätspflicht beeinträchtigt haben, indem er sich parteiergreifend äußerte. „[41] […] Dafür ist zwar nicht erforderlich, dass eine Partei in der Äußerung explizit genannt wird. Das Neutralitätsgebot verlangt vielmehr auch, die versteckte Werbung für oder gegen einzelne miteinander konkurrierende Parteien zu unterlassen. Jedoch liegt ein Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit nicht vor, wenn eine Partei von einer Äußerung weder direkt und unmittelbar noch in unmissverständlicher Weise indirekt und mittelbar betroffen wird. Auch lediglich reflexartige Wirkungen reichen nicht aus. [42] […] An einem Eingriff fehlt es in der Regel, wenn eine Äußerung allgemein Grundwerte der Verfassung hervorhebt und weder einen Parteinamen noch sonst eine Kollektivbezeichnung enthält, die eine einzelne Partei als Bezugspunkt der Äußerung nahe legt. Bei solchen wertebezogenen Äußerungen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie von der Befugnis der Regierung zur Öffentlichkeitsarbeit, deren Aufgabe es ist, den Grundkonsens der Bürger über die von der Verfassung geschaffene Staatsordnung lebendig zu erhalten, gedeckt sind. Dies gilt auch dann, wenn aufgrund des Kontextes der wertebezogenen Äußerung ein Zusammenhang zwischen dieser Äußerung und einer Partei hergestellt werden kann. Die Betroffenheit dieser Partei von der Äußerung beschränkt sich in diesen Fällen regelmäßig auf eine bloße Reflexwirkung, der die Eingriffsqualität fehlt. Jura Intensiv [48] […] er [M] hat die Nachricht deutlich nach dem Ende der von der AfD durchgeführten Veranstaltung abgesetzt und […] dadurch jede Lenkungswirkung für die Demonstration der AfD vermieden. [49] Die Äußerung […] enthält zwar durch die Formulierung „Was für ein eindrucksvolles Signal für Demokratie und Freiheit, gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze“ ein positives Werturteil. Dieses Werturteil bezieht sich jedoch auf „Zehntausende […] auf der Straße“, die sich einer bestimmten Partei nicht zuordnen lassen. […] [51] Dem Wortlaut der Nachricht nach deutet nichts darauf hin, dass die Antragstellerin Bezugspunkt der Nachricht sein soll. Sie betont allein Grundwerte der Verfassung und enthält weder eine Kollektivbezeichnung, die für die AfD stehen könnte, noch sonst irgendeine sprachliche Anspielung auf diese. Nichts anderes gilt für das in der Nachricht enthaltene Foto. Auch dieses lässt einen Bezug zur AfD nicht erkennen. Die Nachricht ist damit auch nach außen hin erkennbar nicht daran ausgerichtet, die AfD negativ zu bewerten. […]“ Parteiergreifende Äußerung (-), wenn Auswirkungen auf Partei lediglich reflexartig sind. Eingriff daher (-) bei Äußerung zu allgemeinen Verfassungswerten und ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Partei. Gemeint ist ein zeitlicher Kontext zwischen der Äußerung und - wie hier - einer Veranstaltung der Partei. Subsumtion Keine unmittelbar negative Bewertung der AfD-Demonstration Immer ein Klausurschwerpunkt, wenn es um die Zulässigkeit von Äußerungen geht: vollständige und ganz genaue Auswertung dessen, was gesagt wurde. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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