Aufrufe
vor 5 Jahren

RA Digital - 04/2019

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

198 Öffentliches Recht

198 Öffentliches Recht RA 04/2019 Die Herleitung des Unterlassungsanspruchs ist zwar strittig, seine Existenz und seine Voraussetzungen sind jedoch allg. anerkannt. Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs I. Anspruchsgrundlage Als Anspruchsgrundlage kommt der gewohnheitsrechtlich anerkannte öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch in Betracht. II. Anspruchsvoraussetzungen Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch setzt einen hoheitlichen, rechtswidrigen Eingriff in ein subjektiv-öffentliches Recht und die konkrete Gefahr der Wiederholung dieses Eingriffs voraus. Hier kommt nur ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des K aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG (sog. APR) in Betracht. 1. Schutzbereich des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG Der Schutzbereich des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG muss eröffnet sein. Betroffene Einzelausprägung des APR Problem: Beanstandete Äußerung bezieht sich nicht direkt auf K Vgl. BGH, Urteil vom 18.9.1979, VI ZR 140/78, juris Rn 15ff. Verfolgungsschicksal hebt die Juden aus der Bevölkerung hervor und vermittelt ihnen einen Achtungsanspruch, der Teil ihrer Würde ist. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst […] den Schutz vor staatlichen Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf das Bild der betroffenen Person in der Öffentlichkeit auszuwirken. Hierzu zählen auch das Verfügungsrecht und das Selbstbestimmungsrecht über die eigene Außendarstellung sowie der Schutz des sozialen Geltungsanspruchs, der „äußeren Ehre“ als des Ansehens in den Augen anderer.“ Da sich die beanstandete Äußerung allgemein auf die Opfer des Naziregimes bezieht, ist fraglich, ob sie den aufgezeigten Schutzbereich überhaupt berührt. „Die jüdischen Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland gehören zum Kreis der geschützten Rechtsgutträger, obwohl sie eine größere Gruppe Menschen sind. Die jüdischen Staatsbürger der Bundesrepublik sind zu einer in jeder Beziehung scharf abgegrenzten Volksgruppe geworden, da das vom Nationalsozialismus auferlegte Schicksal sie zu einer Einheit verbindet, die sie aus der Allgemeinheit hervortreten lässt und personell in jeder ihr zugehörenden Person verkörpert wird. Das einzigartige Verfolgungsschicksal der Juden im „Dritten Reich“ prägt den Geltungsanspruch und Achtungsanspruch eines jeden von ihnen vor allem gegenüber den Bürgern des Landes, auf dem diese Vergangenheit lastet. Die Bedeutung jenes Geschehens für die Person geht hier über das persönliche Erlebnis der Diskriminierung und Nachstellung durch die Nationalsozialisten hinaus. Die historische Tatsache selbst, dass Menschen nach den Abstammungskriterien der sog. Nürnberger Gesetze ausgesondert und mit dem Ziel der Ausrottung ihrer Individualität beraubt wurden, weist den in der Bundesrepublik lebenden Juden ein besonderes personales Verhältnis zu ihren Mitbürgern zu; in diesem Verhältnis ist das Geschehen auch heute gegenwärtig. Es gehört zu ihrem personalen Selbstverständnis, als zugehörig zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortlichkeit aller anderen besteht, und das Teil ihrer Würde ist. Die Achtung dieses Selbstverständnisses ist für jeden von ihnen geradezu eine der Garantien gegen eine Wiederholung solcher Diskriminierung und eine Grundbedingung für ihr Leben in der Bundesrepublik. Dem persönlichen Betroffensein steht dabei nicht entgegen, dass eine Person selbst jener Verfolgung nicht ausgesetzt gewesen war. Nicht das persönlich erlittene Verfolgungsschicksal ist das Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2019 Öffentliches Recht 199 verbindende Kriterium, sondern der geschichtliche Vorgang, mit dem das Persönlichkeitsbild jedes in der Bundesrepublik lebenden Juden, seine personale und soziale Stellung gegenüber seinen deutschen Mitbürgern belastet ist. Der Kreis der Betroffenen beschränkt sich daher nicht auf die Juden, die unter der Verfolgung des „Dritten Reiches“ leben mussten und sie überlebt haben. Das entsetzliche Geschehen prägt in der Bundesrepublik das Bild ihrer Bürger jüdischer Abstammung schlechthin; sie verkörpern diese Vergangenheit, auch wenn sie selbst an ihr nicht teilhaben mussten.“ Da K jüdischen Glaubens ist, gehört er zum geschützten Personenkreis, sodass die umstrittene Äußerung den Schutzbereich seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts berührt. 2. Eingriff in den Schutzbereich Weiterhin muss ein Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des K vorliegen. Dafür ist zunächst zu klären, ob es sich bei der umstrittenen Äußerung um eine Tatsachenbehauptung oder um eine Meinungsäußerung handelt. „[…] Während Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit geprägt werden und der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich sind, handelt es sich bei einer Meinung um eine Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist. […] Wendet man diese Grundsätze auf die vom Kläger geltend gemachte Aussage des Beklagten an, handelt es sich um eine Meinungsäußerung, weil die Beantwortung der Frage nach einer versöhnenden Wirkung der in Rede stehenden Glocke keiner Beweisaufnahme zugänglich ist, sondern maßgeblich von wertenden Elementen abhängig ist. [Werturteile] dürfen […] im Rahmen der politischen Meinungsbildung die Grenzen des Sachlichkeitsgebots nicht überschreiten. Vielmehr müssen sie sich an den allgemeinen Grundsätzen für rechtsstaatliches Verhalten in der Ausprägung des Willkürverbots und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes orientieren. Aus dem Willkürverbot ist abzuleiten, dass Werturteile […] nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen dürfen, d.h. bei verständiger Beurteilung auf einem im Wesentlichen zutreffend oder zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen müssen und zudem den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten dürfen. […] Dies hat zur Folge, dass kommunale Gremien, also auch ein Ortsbürgermeister bei seinen Äußerungen in amtlicher Funktion die Judenvernichtung durch das nationalsozialistische Regime […] weder billigen oder leugnen noch verharmlosen dürfen. Nur dann werden die Ehre und damit die Menschenwürde sowie das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der von der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft verfolgten und vernichteten Juden sowie deren Nachkommen gewahrt. Auch wenn man die Wirkung, welche von der im Kirchturm von A... hängenden Glocke wegen des vorhandenen Hakenkreuzes und der Aufschrift „Alles fuer's Vaterland - Adolf Hitler“ durchaus unterschiedlich bewerten kann […], ist die hier in Rede stehende Äußerung des Ortsbürgermeisters von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Denn durch die Äußerung, die im Kirchturm der protestantischen Kirche in A... hängende Glocke „diene der Versöhnung mit den Opfern der Nazizeit“ wird das Schicksal der Juden Jura Intensiv Achtungsanspruch umfasst nicht nur die in der NS-Zeit verfolgten Juden, sondern auch deren Nachkommen. K ist Jude • Schutzbereich (+) Tatsache oder Meinung? Tatsache = Wahrheitsbeweis möglich Meinung = Werturteil Hier: Meinung Anforderungen an die Zulässigkeit amtlicher Äußerungen: Sachlichkeitsgebot = Willkürverbot und Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.9.2017, 10 C 6/16, juris Rn 26f., RA 2018, 29, 31) Übertragung auf den konkreten Fall: Keine Billigung, Verleugnung oder Verharmlosung der Judenvernichtung. Subsumtion © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats