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RA Digital - 04/2020

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174 Zivilrecht

174 Zivilrecht RA 04/2020 Natürlich kann die Verletzung nicht „ausgeglichen“ werden im Sinne des Wortes. Der Verletzte soll sich aber zum Ausgleich mit dem Geld eine Freude machen dürfen, die er sich sonst vielleicht nicht gemacht hätte. Die Schmerzensgeldtabellen dienen der Gleichheit im Recht, jedoch verbieten sich bei der Billigkeitsentscheidung schematische Bewertungen. Der Einzelfall ist zu würdigen. Maßstäbe Mitverschulden ist hier nicht erkennbar. nicht in Geld messbar sind. Der Maßstab für die billige Entschädigung i.S.v. § 253 BGB muss deshalb unter Berücksichtigung ihrer Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion für jeden einzelnen Fall durch Würdigung und Wägung aller ihn prägenden Umstande neu gewonnen werden; das auf diese Weise gewonnene Ergebnis ist anschließend im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz anhand von in sog. Schmerzensgeldtabellen erfassten Vergleichsfällen zu überprüfen, wobei aber die dort ausgewiesenen Beträge schon wegen der meist nur begrenzt vergleichbaren Verletzungsbilder nicht schematisch übernommen werden dürfen. [54] Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Nach diesen Maßstäben war hier ein Schmerzensgeld von 6.000 € angemessen. III. Anspruch erloschen oder gemindert Fraglich ist, ob der Anspruch wegen Mitverschuldens gem. § 254 I BGB zu mindern ist. [36] Ein Mitverschulden der Klägerin gem. § 254 Abs. 1 BGB liegt nicht vor. Die Klägerin stand zulässigerweise am Rand der Promenade und hatte - anders als die Zeugin W. - nicht die Möglichkeit, der Kollision durch einen seitlichen Schritt zu entgehen. Dass ein Verschulden der Klägerin zu dem entstandenen Schaden beigetragen hat, oder die Klägerin pflichtwidrig eine Handlung unterlassen hat, die den Schaden hätte verhindern oder mindern können, haben die Beklagten weder vorgetragen noch bewiesen. Jura Intensiv Somit besteht ein Anspruch nur in Höhe von 7.448,39 €. B. Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 832 I, 253 II BGB K könnte gegen die Eltern (E) einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gem. §§ 832 I, 253 II BGB haben. I. Voraussetzungen des § 832 I 1 BGB Die von § 832 I BGB geforderte Rechtsgutsverletzung liegt vor, E sind kraft Gesetz aufsichtspflichtig über ein minderjähriges Kind, welches einen Schaden verursacht hat, s.o.. II. Kein Ausschluss gem. § 832 I 2 BGB Die Haftung der E kann aber gem. § 832 I 2 BGB ausgeschlossen sein, wenn E ihrer Aufsichtspflicht genügt haben. Keine Verletzung der Aufsichtspflicht [62] Die Beklagte zu 2) und 3) haben ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt, die ihnen über die Beklagte zu 1) obliegt. Grundsätzlich richtet sich das Maß der gebotenen Aufsicht über Minderjährige zum einen nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung danach Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2020 Zivilrecht 175 bestimmt, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Zum anderen kommt es auf die Gefährlichkeit des jeweiligen Verhaltens und die Schadensgeneigtheit des jeweiligen Umfeldes an, also auf das Ausmaß der vorhersehbaren Gefahren, die von der konkreten Situation für Dritte ausgehen. Kinder müssen dabei über die Gefahren des Straßenverkehrs frühzeitig belehrt werden. Sie müssen, insbesondere was das Radfahren betrifft, behutsam in den Straßenverkehr hineingeführt werden. Eltern müssen ihre Kinder langsam daran gewöhnen, sich auf die vielfältigen Gefahren einzustellen und ihr Verhalten danach zu steuern. Das betrifft sowohl die Verkehrsregeln als auch die Fahrtechnik. Beides muss eingeübt werden. Die sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und umsichtigen Verhalten im Verkehr ist allerdings nur möglich, wenn ein Kind andererseits auch altersgerecht angepasste Gelegenheiten bekommt, sich ohne ständige Beobachtung, Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren. Denn die Erziehung der Kinder zu verantwortungsbewussten Verkehrsteilnehmern liegt auch im Gemeinschaftsinteresse, und sie ist insoweit nicht in dem Sinn der Alleinverantwortung der Eltern unterworfen, dass diese stets „für ihre Kinder“ haften müssen. [63] Nach diesen Maßstäben ist es aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden, dass die Beklagten zu 2) und 3) die Beklagte zu 1) in der Situation vor dem Unfall auf der Hafenpromenade mit dem Fahrrad fahren ließen, während sie selbst - ihre Fahrräder schiebend - in einigem Abstand folgten. Die Beklagte zu 1) war mit den Verkehrsregeln vertraut und bewegte sich bereits nach eigenen Aussagen seit ihrem fünften Lebensjahr mit dem Fahrrad im Straßenverkehr. Die Beklagten zu 2) und 3) hielten Sichtund Rufkontakt zur Beklagten zu 1), der befahrene Weg war ausreichend breit, motorisierter Verkehr war nicht zu erwarten. Es handelte sich um eine sehr übersichtliche Gesamtsituation, die von wenigen Fußgängern geprägt war. Unter diesen Umständen war die Entscheidung der Beklagten zu 2) und 3), die Beklagte zu 1) mit dem Fahrrad vorfahren zu lassen, nicht zu beanstanden. Denn ein altersgerecht entwickeltes Kind braucht gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen, die sich aus den Erziehungszielen der §§ 1631 Abs. 1 und 1626 Abs. 2 BGB ergeben. Jura Intensiv III. Zwischenergebnis K hat gegen E keinen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld. Kinder müssen belehrt werden. Auch im Straßenverkehr ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Eltern müssen Verkehrsregeln und Fahrtechnik mit den Kindern üben, damit sie verantwortungsbewusste Verkehrsteilnehmer werden. Letzteres liegt im Gemeinschaftsinteresse. C. Ergebnis K hat gegen B einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld aus §§ 823 I, 253 II BGB in Höhe von 7.448,39 €. Ein Anspruch gegen E besteht nicht. FAZIT Verursacht ein minderjähriges, deliktsfähiges Kind einen Unfall, kommt es auf seine Einsichtsfähigkeit zum Zeitpunkt des Unfalls an. Dabei ist ein individueller Maßstab anzulegen. Eltern müssen Kinder zu verkehrsgerechtem Verhalten erziehen. Dies umschließt die Einräumung von Gelegenheiten, sich im Straßenverkehr zu erproben. Dabei müssen die Eltern nicht stets zum spontanen Eingriff bereit sein, um einen Unfall zu verhüten. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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