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RA Digital - 04/2020

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204 Öffentliches Recht RA 04/2020 „[78] Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. […] Dazu gehört das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze. Bedeutung des religiösen Selbstverständnisses Das Tragen eines Kopftuchs ist eine religiöse Handlung, auch wenn das nicht jeder so sieht. Kurz halten, da unproblematisch Das ist nicht unstrittig, vgl. zum Streitstand: Schildheuer, JURA INTENSIV, Grundrechte, Rn 303-307 1. verfassungsimmanente Schranke: Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität Staatliche Neutralitätspflicht = Neutralitätspflicht seiner Amtsträger Einzelfallbetrachtung erforderlich [80] Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben. Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich dafür auch im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes auf den Schutz der Glaubensund Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Darauf, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot vertreten werden, kommt es insoweit nicht an, da die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung jedenfalls hinreichend plausibel ist.“ Folglich ist auch der sachliche Schutzbereich der Glaubensfreiheit eröffnet. 3. Eingriff Durch die auferlegte Pflicht zur religiösen Neutralität wird B die Ausübung ihrer Glaubensfreiheit teilweise unmöglich gemacht, sodass ein Eingriff in ihre Glaubensfreiheit vorliegt. II. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in die Glaubensfreiheit ist gerechtfertigt, soweit der durch die Schranken dieses Grundrechts gedeckt ist. Jura Intensiv 1. Festlegung der Schranke „[82] Einschränkungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil dieses Grundrecht keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang. […] [87] Das Grundgesetz begründet […] in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. […] [89] Die Verpflichtung des Staates auf Neutralität kann keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität, denn der Staat kann nur durch Personen handeln. Allerdings muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. […] Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin oder einer pädagogischen Mitarbeiterin Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2020 Öffentliches Recht 205 hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen. […] Es kommt insofern auf die konkreten Umstände an. [90] Nimmt der Staat etwa auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss, so sind ihm abweichende Verhaltensweisen einzelner Amtsträger eher zurechenbar. So liegen die Dinge im vorliegenden Fall. Um das Vertrauen in die Neutralität und Unparteilichkeit der Gerichte zu stärken, haben Bund und Länder nicht nur das Verfahren während der mündlichen Verhandlung in den jeweiligen Prozessordnungen detailliert geregelt. Zum Selbstbildnis des Staates gehören auch die Verpflichtung der Richterinnen und Richter, eine Amtstracht zu tragen sowie überkommene Traditionen wie das besondere Eintreten des Spruchkörpers in den Sitzungssaal, das Erheben bei wichtigen Prozesssituationen oder die Gestaltung des Gerichtssaals. Das unterscheidet die formalisierte Situation vor Gericht, die den einzelnen Amtsträgern auch in ihrem äußeren Auftreten eine klar definierte, Distanz und Gleichmaß betonende Rolle zuweist, vom pädagogischen Bereich, der in der staatlichen Schule auf Offenheit und Pluralität angelegt ist. Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden. […] [91] Als weitere verfassungsimmanente Schranke […] ist hier die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege insgesamt zu berücksichtigen […]. Funktionsfähigkeit setzt voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiert. […] [92] […] Auch wenn das religiöse Bekenntnis einzelner Amtsträger allein nicht gegen deren sachgerechte Amtswahrnehmung spricht, kann die erkennbare Distanzierung des einzelnen Richters und der einzelnen Richterin von individuellen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei Ausübung ihres Amtes zur Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz insgesamt beitragen und ist umgekehrt die öffentliche Kundgabe von Religiosität geeignet, das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen, […]. Jura Intensiv [93] Für die Rechtfertigung eines Kopftuchverbots streitet im vorliegenden Zusammenhang auch die negative Religionsfreiheit der Verfahrensbeteiligten. [94] […] Zwar hat er […] kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen […] verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens […] ausgesetzt ist. [95] Der Gerichtssaal stellt einen solchen Raum dar, in dem der Anblick religiöser Symbole […] unausweichlich sein kann, wenn der Staat ihre Verwendung nicht untersagt. […] Anders als im Bereich der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule, in der sich gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll, tritt der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber. […] [96] Aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Art. 20 Abs. 3 GG […] folgt unter anderem die Garantie der richterlichen Unparteilichkeit. […] Hier: Staatliche Neutralitätspflicht ist berührt, weil im Gerichtssaal eine besondere Über-/Unterordnungssituation herrscht Das ist der entscheidende Unterschied zur 2. Kopftuchentscheidung des BVerfG (RA 2015, 197) und zum Kopftuchverbot in öffentlichen Kindertagesstätten (BVerfG, NVwZ 2017, 549). A.A. Ladeur/Augsberg, JZ 2007, 12, 16; Sacksofsky, djbZ 2018, 8, 9 2. verfassungsimmanente Schranke: Funktionsfähigkeit der Rechtspflege 3. verfassungsimmanente Schranke: Negative Glaubensfreiheit der Verfahrensbeteiligten Auch hier: Besondere Über-/Unterordnungssituation im Gerichtssaal Keine verfassungsimmanente Schranke: Gebot richterlicher Unparteilichkeit © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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