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RA Digital - 04/2021

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

178 Zivilrecht

178 Zivilrecht RA 04/2021 LEITSATZ 1. Es gibt keine Legaldefinition für „seelisches Leid“. Mit dem Hinterbliebenengeld soll der Trauerschaden, der die erlittenen seelischen Beeinträchtigungen umfasst, abgegolten werden. 2. Der Betrag von 10.000,00 € stellt nach dem Sinn und Zweck der neu eingefügten Regelungen (§ 844 Absatz 3 BGB, 10 Abs. 3 StVG) keine Obergrenze, sondern Anker, Richtschnur und Orientierungshilfe für die Bemessung im Einzelfall dar. Bei der konkreten Bemessung ist 287 ZPO anwendbar. 3. Schockschäden für psychisches Leid einerseits und Hinterbliebenengeld für seelisches Leid andererseits stehen nicht in einem Stufenverhältnis zueinander, sondern es handelt sich um zwei unterschiedliche Ansprüche. Andauernde seelische Schmerzen können zumindest gleichwertige oder sogar - je nach Dauer und Intensität - höhere Betroffenheiten auslösen. 4. Wie beim Schmerzensgeld handelt es sich auch beim Hinterbliebenengeld um einen Anspruch wegen einer immateriellen Einbuße. In beiden Fällen sind sowohl die Ausgleichs- als auch die Genugtuungsfunktion zu berücksichtigen. 5. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes muss sich in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens-/ Hinterbliebenengeld einfügen. Problem: Bemessung des Hinterbliebenengeldes Einordnung: Deliktsrecht OLG Schleswig, Urteil vom 23.02.2021 7 U 149/20 EINLEITUNG Im Jahr 2017 wurde das Hinterbliebenengeld als immaterieller Schaden trauernder Angehöriger der durch unerlaubte Handlungen Verstorbenen eingeführt (u.A. § 10 III StVG, §844 III BGB). In der Gesetzesbegründung ist ein Ankerwert von 10.000 € für enge Angehörige wie z.B. Kinder der Verstorbenen vorgeschlagen worden. Von der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurde bislang nicht geklärt, wie das Hinterbliebenengeld berechnet wird. Mit seinem Urteil leistet das OLG Schleswig Pionierarbeit. SACHVERHALT Der Vater der K war bei einem vom Rentner Q mit dessen PKW verursachten Verkehrsunfall noch am Unfallort verstorben. Q wurde zu einer Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Weil die Polizei keine Informationen über Angehörige hatte, wurde K über den Tod ihres Vaters, zu dem sie ein inniges Verhältnis hatte und dessen erste Ansprechpartnerin sie war, erst eine Woche später informiert. Die anschließende Haushaltsauflösung sowie die Organisation und Durchführung der Beerdigung belastete K stark. K trauerte in der Folgezeit stark und weinte viel und regelmäßig. Seit dem Tod leidet sie unter Schlafproblemen. K forderte B, die Haftpflichtversicherung des Q, zur Zahlung eines Hinterbliebenengeldes von 10.000 € auf. Diese war bereit, 3.000 € Hinterbliebenengeld an K zu zahlen. K fordert wegen ihres seelischen Leides weitere 7.000 €. Zu Recht, wenn die alleinige und ungekürzte Haftung des Q feststeht? LÖSUNG Jura Intensiv A. Anspruch der K gegen B auf Zahlung weiterer 7.000 € als Hinterbliebenengeld aus §§ 115 I 1 Nr. 1 VVG, 7 I, 10 III StVG K könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung weiterer 7.000 € als Hinterbliebenengeld aus §§ 115 I 1 Nr. 1 VVG, 7 I, 10 III StVG haben. I. Anspruchsbegründender Tatbestand B ist gem. §§ 1 PflichtversicherungsG, 113, 115 VVG Haftpflichtversicherer des versicherten Unfallfahrzeugs des Kfz-Halters Q. § 115 I 1 Nr. 1 VVG gewährt einen Direktanspruch, sofern der Halter wegen des Verkehrsunfalls haftet. Die Haftung des Halters Q aus § 7 I StVG steht fest. Gestritten wird hier allein um die Höhe des Hinterbliebenengeldes aus § 10 III StVG. Dies hängt neben den gesetzgeberischen Zielvorstellungen auch von den zugrundezulegenden Kriterien ab. II. Schaden gem. § 10 III StVG Fraglich ist allein, ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld besteht. Die Voraussetzungen des § 10 III StVG, nach dem ein besonderes Näheverhältnis zum Getöteten bestanden haben muss, liegen bei K, der Tochter des Getöteten, genauso vor wie ihr erlebtes seelisches Leid. Fraglich ist die Höhe des Hinterbliebenengeldes. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2021 Zivilrecht 179 [17] Gemäß § 10 Absatz 3 StVG (entsprechend § 844 Absatz 3 BGB) schuldet der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der mit dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld. Diese Regelung gilt für alle Schäden die nach dem 22.07.2017 eingetreten sind. (...) [19] Unstreitig hat die Klägerin durch den Unfalltod ihres Vaters auch „seelisches Leid“ erlitten. Zwar gibt es noch keine genaue Definition für „seelisches Leid“. Leid bezeichnet als Sammelbegriff zunächst einmal all das, was einen Menschen körperlich und seelisch belastet. Insbesondere der Verlust von nahestehenden Menschen wird als Leid empfunden. Körper und Seele sind in diesem Zusammenhang als Einheit zu verstehen. (...) Eine anhaltende seelische Störung kann z.B. zu einer erhöhten Anfälligkeit für körperliche und psychische Erkrankungen führen und umgekehrt. Ursache und Wirkung sind hier häufig nicht immer klar auseinander zu halten. (...) [20] Aus der Gesetzesbegründung (BT Drucksache 2017, 18/11397) ergibt sich, dass mit dem Hinterbliebenengeld der Trauerschaden abgegolten werden sollte, sofern kein Nachweis für eine physische oder psychische Erkrankung geführt kann bzw. die Schwelle zum pathologischen Befund nicht überschritten wurde. „Seelisches Leid“ soll dann vorliegen, wenn zwar die Trauer in ihrer Intensität hinter einer pathologisch ermittelbaren Gesundheitsbeeinträchtigung als ersatzfähiger Schockschaden zurückbleibt, gleichwohl aber die durch den Tod des nahen Angehörigen erlittenen seelischen Beeinträchtigungen eine gewisse Intensität und Nachhaltigkeit erfahren haben. Am seelischen Leid der K bestehen keine Zweifel. Fraglich ist allein die Höhe und die Methode der Berechnung des Hinterbliebenengeldes. [22] Für das zugefügte seelische Leid ist eine „angemessene Entschädigung in Geld“ zu leisten. Konkrete Vorgaben enthalten weder das Gesetz (...) noch die Gesetzesbegründung. Maßstab dürfte die konkrete Beeinträchtigung (seelisches Leid) sein. Entsprechende, allgemeingültige Bemessungskriterien dürften jedoch nur sehr schwer zu finden sein, zumal schon die Beurteilung und Bewertung bei körperlichen und psychischen Schäden im Zusammenhang mit der Schmerzensgeldmessung (...) mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist. (...) Die Dauer von seelischem Leid ist nicht prognostizierbar. Deshalb wäre es falsch, lediglich schematische Bemessungen z.B. nach der Art des Verwandtschaftsverhältnisses oder ähnlichen objektiven Kriterien zu entwickeln, ohne den konkreten Einzelfall zu berücksichtigen. [24] Der Senat geht ferner davon aus, dass der Betrag von 10.000,00 € - entsprechend der Gesetzesbegründung - nach dem Sinn und Zweck der neu eingefügten Regelungen (...) keine „Obergrenze“, sondern einen „Anker“ bzw. eine „Orientierungshilfe“ für die Bemessung darstellt (..). Zwar findet sich die ausdrückliche Erwähnung des Betrages von 10.000,00 € lediglich in der Kostenschätzung des Regierungsentwurfes zum Gesetz zur Einführung eines Anspruches auf Hinterbliebenengeld (...), gleichwohl ist darin auch ein gewisser Anhaltspunkt für die Vorstellungen des Gesetzgebers zur Höhe des Hinterbliebenengeldes zu sehen. (...) Nach dem Willen des Gesetzgebers soll der Hinterbliebene mit der Entschädigung in die Lage versetzt werden, seine durch den Verlust verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu lindern (...). Jura Intensiv Aus Platzgründen prüfen wir nicht die Ansprüche aus §§ 115 I 1 Nr. 1 VVG, 823 I, 844 III BGB sowie §§ 115 I 1 Nr. 1 VVG, 823 II BGB. 229 StGB, 844 III BGB. Dort wären dieselben Ausführungen zu § 844 III BGB zu machen. Es gibt keine Definition für seelisches Leid. Das Gericht versucht eine Annäherung an die Bedeutung des Begriffs. Der Senat ist hier sehr höflich, denn die Gesetzesbegründung bietet keine Hilfe bei der Auslegung des Begriffs. Zumindest bietet die gesetzgeberische Intention einen Anhaltspunkt. Genau darauf wird es künftig hinauslaufen: Die Angehörigen müssen ihr seelisches Leid möglichst bildhaft veranschaulichen. Ob sich in der Folgezeit wie bei der Schmerzensgeldtabelle Fallgruppen bilden lassen, bleibt abzuwarten. Weil, wie man hier exemplarisch lesen kann, schon der Begriff kaum greifbar ist, dürften Angehörige 10.000 € bekommen, es sei denn sie schaffen es, Gerichte von einer besonderen Intensität des Leids zu überzeugen. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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