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RA Digital - 06/2016

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316 Öffentliches Recht

316 Öffentliches Recht RA 06/2016 Problem: Meinungsfreiheit kann „Recht auf Gegenschlag“ decken (sog. Kachelmann-Entscheidung) Einordnung: Grundrechte/Meinungsfreiheit BVerfG, Beschluss vom 10.03.2016 1 BvR 2844/13 LEITSATZ (DER REDAKTION) Die Meinungsfreiheit schützt auch die Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen, insbesondere als Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre, der gleichfalls in emotionalisierender Weise erfolgt ist. EINLEITUNG Der sog. Kachelmann-Prozess hat nicht nur die Strafgerichte in Gestalt des LG Mannheim beschäftigt, sondern auch die Zivilgerichte und das BVerfG. SACHVERHALT Der K war mit der B liiert, bis sie ihn Anfang des Jahres 2010 wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung anzeigte. Im darauf folgenden Strafprozess vor dem Landgericht wurde K freigesprochen, da ihm eine Straftat nicht nachgewiesen werden konnte. Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich seine Anwälte in Fernsehsendungen über die B. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien zudem ein Interview mit dem K, in dem er über die B wörtlich äußerte: „Ich weiß, ich habe mich mies benommen. Ich habe Menschen verarscht. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber das, was die Nebenklägerin [= die B, die Red.] mit mir gemacht hat, als sie sich den Vorwurf der Vergewaltigung ausdachte - das ist keine Verarsche. Das ist kriminell. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. […] Ich habe keinen Sprung in der Schüssel. Viel interessanter wäre doch zu erfahren, was psychologisch in der Frau vorging, die mich einer Tat beschuldigt, die ich nicht begangen habe“. Daraufhin gab auch B ein Interview, das eine Woche nach der Veröffentlichung des Interviews mit dem K erschien. In dem Interview sagte sie: „Das Gericht unterstellt mir mit diesem Freispruch, dass ich so dumm und so niederträchtig sein könne, eine solche Vergewaltigungsgeschichte zu erfinden […]. Wer mich und ihn kennt, zweifelt keine Sekunde daran, dass ich mir diesen Wahnsinn nicht ausgedacht habe. Ich bin keine rachsüchtige Lügnerin. […] Fast unerträglich aber war für mich, die Aussagen der [vom K] bezahlten Gutachter in der Presse lesen zu müssen. Diese Herren erklären vor Gericht, die Tat könne sich nicht so abgespielt haben, wie es die Nebenklägerin, also ich, behauptet - und man selbst sitzt zu Hause, liest das und weiß ganz genau: ES WAR ABER SO! […] Ja, das kann er. Andere beschimpfen und bloßstellen […] In seinen Augen hat er in der besagten Nacht ja nichts falsch gemacht. Er hat nur die Machtverhältnisse wieder so hergestellt, wie sie seiner Meinung nach richtig sind“. In der Folgezeit begehrte K von der B die Unterlassung mehrerer Äußerungen, die sie im Rahmen des Interviews getätigt hatte. Das Landgericht verurteilte B antragsgemäß, ihre Rechtsmittel blieben erfolglos. Sie sieht sich durch die gerichtlichen Entscheidungen in ihrer Meinungsfreiheit verletzt. Zu Recht? Jura Intensiv LÖSUNG B ist durch die angegriffenen Gerichtsentscheidungen in ihrer verfassungsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG verletzt, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist. Inhaltsverzeichnis

RA 06/2016 Öffentliches Recht 317 I. Eingriff in den Schutzbereich Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 1. Hs. GG vorliegen. Art. 5 I 1 1. Hs. GG schützt für jedermann das Recht auf freie Meinungsäußerung. Unter Meinung ist jedes Werturteil zu verstehen, also jede Äußerung, die durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung geprägt ist. Überwiegend stellen die streitgegenständlichen Äußerungen der B Werturteile dar. Bei der Aussage „ES WAR ABER SO!“ handelt es sich hingegen um eine Tatsachenbehauptung, also eine Äußerung über einen Vorgang in der Vergangenheit, die dem gerichtlichen Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Fraglich ist, ob auch insoweit der Schutzbereich der Meinungsfreiheit eröffnet ist. „[21] […] Die Gerichte sind zutreffend davon ausgegangen, dass auch die als Tatsachenbehauptungen eingeordneten Äußerungen durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt sind, da sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind. Die Tatsachenbehauptungen sind nicht erwiesen unwahr. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Nach dem Freispruch des Klägers stellen sich deshalb die verschiedenen Wahrnehmungen als subjektive Bewertungen eines nicht aufklärbaren Geschehens dar, die nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als Meinungen zu behandeln sind.“ Demnach unterfallen die Interviewäußerungen der B insgesamt dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Weiterhin muss ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit vorliegen. Das ist der Fall, wenn dem Einzelnen durch ein staatliches Handeln ein Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt. Durch die zivilgerichtlichen Entscheidungen wird es B unmöglich gemacht, ihre Äußerungen zu wiederholen. Somit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit der B vor. II. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er durch die Schranken des Grundrechts gedeckt ist. Jura Intensiv 1. Festlegung der Schranke Fraglich ist, welche Schranke für das Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG gilt. In Betracht kommt der qualifizierte Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II GG. Danach findet die Meinungsfreiheit ihre Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Hier könnte die Schranke der allgemeinen Gesetze einschlägig sein. Allgemeine Gesetze sind solche Bestimmungen, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines höherrangigen Rechtsguts dienen, also dem Schutz eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat. Dabei hat das einschränkende Gesetz seinerseits die besondere Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG zu beachten, das für einen demokratischen Rechtsstaat geradezu konstituierend ist und somit eines der vornehmsten und wichtigsten Grundrechte darstellt. Das begrenzende Gesetz wird also wiederum begrenzt durch die hohe Wertigkeit der Meinungsfreiheit Persönlicher und sachlicher Schutzbereich Definition „Meinung“ Problem: Tatsachenbehauptung Bestätigung der std. Respr. (vgl. BVerfGE 54, 208, 219; 61, 1, 8) Lägen diese Voraussetzungen nicht vor, hätte geprüft werden müssen, ob Meinungsäußerung und Tatsachenbehauptung ein einheitliches Ganzes darstellen (was hier nicht der Fall ist) und der Schwerpunkt auf der Meinungsäußerung liegt. Definition „Eingriff“ Das BVerfG verliert kein Wort zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, obwohl ein zivilgerichtlicher Ausgangsstreit vorliegt. In einer Klausur müssten dazu jedoch Ausführungen erfolgen (s. dazu Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn 196 ff.). Definition „allgemeine Gesetze“ Wechselwirkungslehre kann hier schon erwähnt werden, hat eigentlichen Anwendungsbereich aber erst in der Angemessenheitsprüfung. Inhaltsverzeichnis

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