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RA Digital - 06/2020

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310 Öffentliches Recht

310 Öffentliches Recht RA 06/2020 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019, 1 BvR 276/17, RA 2020, 29 ff. (Recht auf Vergessen II) Details zum einschlägigen Sekundärrecht der EU in Rn 33 der Entscheidung Problem: Zivilrechtsstreit • sind die Grundrechte überhaupt anwendbar? Lösung: Mittelbare Drittwirkung (vgl. dazu Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 29 ff.) Problem: Knüpft das umstrittene Verbot überhaupt an die Behinderung an? Mögliche unmittelbare oder mittelbare Benachteiligungen von Behinderten: • Verschlechterung der bestehenden Situation • Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten Zudem: Förderauftrag Insbesondere Ausstrahlungswirkung im Zivilrecht Vgl. BayObLG, Beschluss vom 25.10.2001, 2 ZZ BR 81/01, Rn 20 „[32] […] Das Bundesverfassungsgericht prüft das innerstaatliche Recht und dessen Anwendung grundsätzlich jedenfalls dann am Maßstab der deutschen Grundrechte, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, durch dieses aber nicht vollständig determiniert ist.“ Eine abschließende vollständige Rechtsvereinheitlichung durch das EU-Recht liegt hier nicht vor, sodass Art. 3 III 2 GG als Beurteilungsmaßstab herangezogen werden kann. II. Benachteiligung wegen einer Behinderung B muss gem. Art. 3 III 2 GG wegen ihrer Behinderung benachteiligt worden sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Ausgangsrechtsstreit zwischen Privatpersonen geführt wurde, also im Zivilrecht angesiedelt ist. Das wirft mit Blick auf Art. 1 III GG, der nur die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte bindet, die Frage auf, inwieweit Art. 3 III 2 GG hier überhaupt zur Geltung kommen kann. Die Vorschrift entfaltet jedoch – wie alle Grundrechte – eine mittelbare Drittwirkung. Danach verpflichten die Grundrechte die Privaten grundsätzlich nicht unmittelbar untereinander. Sie haben jedoch auch auf die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen Ausstrahlungswirkung und sind von den Fachgerichten, insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen. Die Grundrechte entfalten hierbei ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlen als „Richtlinien“ in das Zivilrecht ein. Somit gelangt Art. 3 III 2 GG im Wege der mittelbaren Drittwirkung zur Anwendung. Fraglich ist jedoch, ob B gerade wegen ihrer Behinderung benachteiligt wurde, da die Ärzte das Mitführen der Hündin nur aus hygienischen Gründen untersagt haben. „[35] […] Eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbotene Benachteiligung liegt nicht nur bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten gegeben sein, wenn dieser Ausschluss nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Untersagt sind alle Ungleichbehandlungen, die für Menschen mit Behinderungen zu einem Nachteil führen. Erfasst werden auch mittelbare Benachteiligungen, bei denen sich der Ausschluss von Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beinhaltet außer einem Benachteiligungsverbot auch einen Förderauftrag. Er vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten. Jura Intensiv [38] Das Benachteiligungsverbot wirkt sich insbesondere bei der Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln, bei der Bestimmung von Verkehrssicherungspflichten und des Mitverschuldens oder des als üblich Hinzunehmenden aus. […] Das Benachteiligungsverbot führt dazu, dass im nachbarlichen Zusammenleben mit behinderten Menschen ein erhöhtes Maß an Toleranzbereitschaft zu fordern ist. So sind etwa Ausnahmen von einem Hundehaltungsverbot in einer Wohnungseigentumsgemeinschaft geboten, wenn der Hund der Stabilisierung des Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2020 Öffentliches Recht 311 seelischen Gleichgewichts und der Besserung des Gesundheitszustandes einer behinderten Person förderlich ist. [39] Das Recht auf persönliche Mobilität aus Art. 20 BRK ist bei der Auslegung zivilrechtlicher Normen ebenfalls zu berücksichtigen. Nach Art. 20 Buchstabe b BRK treffen die Vertragsstaaten wirksame Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen, indem sie unter anderem ihren Zugang zu tierischer Hilfe erleichtern. [40] Völkervertragliche Bindungen haben innerstaatlich zwar nicht den Rang von Verfassungsrecht. Der UN-Behindertenrechtskonvention hat der Bundesgesetzgeber mittels förmlichen Gesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht sie damit im Rang eines Bundesgesetzes. Gleichwohl besitzt sie verfassungsrechtliche Bedeutung als Auslegungshilfe für die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Ihre Heranziehung ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das einer Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet. Deutsche Rechtsvorschriften sind nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. [41] […] Ob eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung vorliegt, wofür […] die enge Verbindung zwischen einer blinden Person und ihrem Führhund sprechen könnte, kann dahinstehen. Jedenfalls handelt es sich bei dem Durchgangsverbot […] um eine mittelbare […] Benachteiligung der Beschwerdeführerin. [42] Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften Personen wegen ihrer Behinderung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. Das scheinbar neutrale Verbot, Hunde in die Orthopädische Gemeinschaftspraxis mitzuführen, benachteiligt die Beschwerdeführerin wegen ihrer Sehbehinderung in besonderem Maße. Denn das Durchgangsverbot verwehrt es ihr, die Praxisräume selbständig zu durchqueren, was sehenden Personen ohne Weiteres möglich ist. Das Kammergericht stellt darauf ab, dass die Beschwerdeführerin selbst gar nicht daran gehindert werde, durch die Praxisräume zu gehen, sondern sich wegen des Verbots, ihre Führhündin mitzunehmen, nur daran gehindert sehe. Hierbei beachtet es nicht den Paradigmenwechsel, den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat. Denn es vergleicht die Beschwerdeführerin nicht mit anderen – nicht behinderten – selbständigen Personen, sondern erwartet von ihr, sich von anderen Personen helfen zu lassen und sich damit von ihnen abhängig zu machen. Dabei verkennt das Gericht, dass sich die Beschwerdeführerin ohne ihre Führhündin einer unbekannten oder wenig bekannten Person anvertrauen und sich, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen müsste. Jura Intensiv BRK = UN-Behindertenrechtskonvention Ausstrahlungswirkung des Völkerrechts auf die Grundrechtsprüfung Auslegung des GG muss möglichst im Einklang mit dem Völkerrecht erfolgen (Schlagwort: Völkerrechtsfreundlichkeit des GG) Subsumtion Jedenfalls mittelbare Benachteiligung (+) Erläuterung, was für eine mittelbare Benachteiligung kennzeichnend ist Zentrale Passage der Entscheidung: Paradigmenwechsel durch Art. 3 III 2 GG = Behinderte sind nicht behinderten Personen gleichzustellen © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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