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RA Digital - 06/2021

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284 Zivilrecht

284 Zivilrecht RA 06/2021 Worauf soll sich ein Messebetreiber verlassen, wenn nicht auf die Einschätzungen der WHO, der europäischen Gesundheitsminister sowie des Bundesgesundheitsministers? Besonders kritisch: Die zu erwartenden Besucher sollten ausgerechnet aus den betroffenen Gebieten kommen. Wichtiger Punkt: Es gab kein Hygienekonzept. Das Gericht sieht auch im Hin- und Herschlingern des Messebetreibers bei der Entscheidungsfindung keine Pflichtverletzung, weil die Entwicklung der Pandemie sehr dynamisch verlief. sicher abschätzen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten am 25.02.2020 war die Infektionslage in Europa, vor allem in Italien, bereits in hohem Maße kritisch. Auch in Deutschland waren erste Infektionsfälle bekannt geworden. Zeitgleich lag eine Einstufung der Corona-Krise als Notfall für die öffentliche Gesundheit von internationalem Ausmaß durch die WHO vor. Die europäischen Gesundheitsminister hatten zu diesem Zeitpunkt mehrfach beraten und stuften die Corona-Krise als bedenklich ein; der deutsche Bundesgesundheitsminister erklärte, die Corona-Krise sei in Europa angekommen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten, waren in Barcelona und Frankfurt a.M. große Messen abgesagt worden. Aus diesen Gründen hatte die Beklagte am 25.02.2020 zu Recht erhebliche Bedenken, ob sie die Gesundheit ihrer Aussteller und Besucher werde ausreichend schützen können. Das Risiko, sich auf der Messe zu infizieren war erheblich: Es wurden Aussteller und Besucher aus einer Vielzahl von Ländern erwartet. Besonders kritisch war, dass zahlreiche Gäste aus Gebieten erwartet wurden, in denen das Corona-Virus sich bereits weiter ausgebreitet hatte, so namentlich aus China und aus Italien. Zudem ist es typisch für eine Messe wie die IEM, dass sich die Besucher von Stand zu Stand fortbewegen und dort jeweils verweilen. Ersichtlich bestand deshalb für die Aussteller und Besucher der IEM ein erhebliches Infektionsrisiko. [32] Diese Risiken für Aussteller, Besucher und die Allgemeinheit ließen sich nicht auf andere Weise als durch die Absage der Veranstaltung beherrschen. Ausgefeilte Hygienekonzepte waren zum damaligen Zeitpunkt noch nicht entwickelt, erst recht nicht erprobt. Mund- und Nasenmasken waren knapp. Bei dieser Sachlage bot allein die Absage der Messe einen sicheren Gesundheitsschutz, und zwar auch dann, wenn - wie von der Klägerin im nachgelassenen Schriftsatz vom 25.03.2021 behauptet - nur noch eine stark reduzierte Anzahl von Ausstellern überhaupt auf der Messe erschienen wären. [33] Eine Pflichtverletzung der Beklagten ist auch nicht darin zu sehen, dass sie erst am 25.02.2021 die Entscheidung zur Absage bzw. Verschiebung der IEM traf und bis dahin noch von ihrer Durchführung ausging und entsprechende Informationen auf ihrer Internetseite veröffentlichte. Die Corona-Krise entwickelte sich im Frühjahr 2020 in Europa rasant. Während Anfang des Jahres kaum Bedenken bestanden und das Virus vor allem in China gemeldet wurde, staffelten sich die Ereignisse im Januar und Februar 2020 rasant. Gerade im Laufe des Februars kam es fast täglich zu neuen Ereignissen und Erkenntnissen. Die Lage im Nachbarland Italien war zu diesem Zeitpunkt bereits kritisch und auch in Deutschland stieg die Beachtung. Vor dem Hintergrund dieser extrem dynamischen Situation ist die Kehrtwende der Beklagten am 25.02.2020 gerechtfertigt. Jura Intensiv Somit steht fest, dass B keine Leistungspflicht aus dem Vertrag schuldhaft verletzt hat. Der haftungsbegründende Tatbestand des Anspruchs aus §§ 280 I, III, 281 I 1 Alt. 1 BGB ist nicht erfüllt. B. Ergebnis: K hat gegen B keinen Anspruch auf Erstattung frustrierter Aufwendungen in Höhe von 200.000 € aus § 284 BGB. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2021 Zivilrecht 285 Problem: Realisierung der tierspezifischen Gefahr Einordnung: Deliktsrecht OLG Bamberg, Urteil vom 28.04.2021 3 U 272/20 (leicht abgewandelt) EINLEITUNG Der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung ist zu eigen, dass sich zur Haftungsbegründung eine tatbestandsspezifische Gefahr im Kausalverlauf realisiert haben muss. In der Bestimmung dieser Grenzen liegt regelmäßig ein Schwerpunkt der Fallbearbeitung. Bei der Tierhalterhaftung kommt es darauf an, die Grenzen der Tiergefahr so zu ziehen, dass eine uferlose Haftung vermieden werden kann. Regelmäßig dient in Lehrveranstaltungen der Wurfgeschoss-Fall, BGH VersR 1978, 515, als lehrreiches Beispiel. Auch der vorliegende Fall hat, sieht man von seinen unappetitlichen Begleitumständen ab, Potential, den Blick für die nötigen Abgrenzungen zu schärfen. SACHVERHALT K1 ist die Tochter des B, der wiederum Halter der Hündin E ist. Wie schon in früheren Fällen hatte B vor einer Urlaubsreise seine Hündin bei K1 und ihrem Ehemann K2 in Obhut gegeben. Aufgrund einer akuten Erkrankung des K2 verließen die K am 08.06.2018 gegen 00:30 Uhr die gemeinsame Wohnung, damit K2 im Klinikum behandelt werden konnte. Die Hündin war unbeaufsichtigt in der Wohnung zurückgeblieben, weil dies in der Vergangenheit keine Probleme verursacht hatte. Sie schlief wie üblich bei geschlossenen Türen im Flur. Während der Abwesenheit der nach ihrer Darstellung erst gegen 04:30 Uhr zurückgekehrten Kläger hatte die an einer - bis dahin nicht erkennbaren, schweren Magen-Darmstörung in der Form einer „basophilen Gastroenteritis allergischer Genese“ erkrankte Hündin, die klägerische Wohnung großflächig mit blutigem Kot verunreinigt, insbesondere die Wände, den Parkettboden und verschiedene Möbelstücke des Wohnzimmers. Einem tierärztlichen Attest zufolge war die Hündin krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen, den schadensauslösenden Kotabsatz zu kontrollieren. Die K verlangen von B Schadensersatz in Höhe von 6.000 €. B verweigert die Zahlung, weil sich keine tierspezifische Gefahr realisiert habe. Mindestens müsse der Anspruch wegen des Mitverschuldens der Tieraufseher gekürzt werden. Zu Recht? LÖSUNG Jura Intensiv A. Anspruch der K gegen B auf Zahlung von 6.000 € Schadensersatz aus §§ 90a S. 3, 694 BGB Die K könnten gegen B einen Anspruch auf Zahlung von 6.000 € Schadensersatz aus §§ 90a S. 3, 694 BGB haben. Ein solcher Anspruch setzt einen Verwahrungsvertrag voraus und ferner, dass B die Gefahr bringende Beschaffenheit des Hundes gekannt hat oder hätte kennen müssen. Letzteres ist nach den Feststellungen des Sachverständigen, der die Erkrankung als „nicht erkennbar“ bewertet hat, nicht der Fall. Folglich besteht kein solcher Anspruch. LEITSATZ 1. Eine typische Tiergefahr äußert sich in einem der animalischen Natur entsprechenden unberechenbaren oder instinktgemäßen selbsttätigen Verhalten des Tieres (vgl. BGH NJW 2014, 2434, Rn 5; VersR 2016, 1068 Rn 9; NJW-RR 2017, 725, Rn 9). 2. An einem selbsttätigen Verhalten des Tieres (hier: eines Hundes) fehlt es nicht bereits deshalb, weil das Tier infolge einer schweren Magen-Darm-Erkrankung zu einem kontrollierten Kotabsatz nicht mehr in der Lage gewesen war. Denn auch eine in einem hohen Grad zwanghafte Reaktion auf eine schwere organische Störung kann ein (instinktmäßiges) selbsttätiges Verhalten des erkrankten Tieres darstellen. 3. Der Umstand, dass die auf ein Mitverschulden der Klägerseite hinweisenden Vorgänge zugleich Elemente des haftungsbegründenden Sachverhalts sind, steht einem Grundurteil – ausnahmsweise – dann nicht entgegen, wenn der im Raum stehende Sorgfaltsverstoß nach Lage der Dinge nach „lediglich“ dazu geführt haben kann, dass sich der Schadenseintritt in einen anderen – noch schadensanfälligeren – Bereich verlagert hat, ohne dass sich daran der weitergehende Vorwurf knüpfen lässt, dass andernfalls ein substantieller Schaden von vornherein ausgeblieben wäre (Fortführung von BGH NJW 2013, 1948, dort Rn 11). Das Gericht hat § 694 BGB im Urteil nicht erwähnt, weil es ein stattgebendes Urteil auf jede einschlägige Anspruchsgrundlage stützen darf. Im Übrigen sah das Gericht an anderer Stelle zu Recht keinen Rechtsbindungswillen der K, weil es sich um eine Alltagsgefälligkeit im familiären Nahbereich ohne gehobene wirtschaftliche Bedeutung handelt. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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