378 Öffentliches Recht RA 07/2018 Intensität des Eingriffs Das ist entscheidend: Rechte und Pflichten der Beamten stehen in Beziehung zueinander, also kein „Rosinenpicken“ möglich. Gewährung eines eingeschränkten Streikrechts als milderes Mittel? Reduziert nicht ausreichend die Gefahr, dass bei länger andauernden Arbeitskämpfen das Schulsystem kollabiert. Ganz wichtige Überlegung: Begrenzung des Streikverbots auf Beamte, die schwerpunktmäßig hoheitlich tätig werden? So insbesondere BVerwGE 149, 117, 134 f. Aber: • Abgrenzungsschwierigkeiten • Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung jenseits des unmittelbar hoheitlichen Bereichs • Änderung der Verbeamtungspraxis hilft kurzfristig nicht [158] […] Der Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG trifft Beamtinnen und Beamte nicht unzumutbar schwer. Zum einen ist mit dem Streikrecht […] lediglich ein Teilbereich der Koalitionsfreiheit angesprochen. Ein Streikverbot zeitigt kein vollständiges Zurücktreten der Koalitionsfreiheit und beraubt sie nicht gänzlich ihrer Wirksamkeit. Zum anderen hat der Gesetzgeber Regelungen geschaffen, die zu einer Kompensation der Beschränkung von Art. 9 Abs. 3 GG […] beitragen sollen. So räumen […] § 118 BBG und § 53 BeamtStG […] den Spitzenorganisationen der Gewerkschaften zwar keine Mitentscheidung, wohl aber Beteiligungsrechte bei der Vorbereitung gesetzlicher Regelungen der beamtenrechtlichen Verhältnisse ein. […] Ein weiteres Element der Kompensation ergibt sich aus dem beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip, […]. Bei diesem wechselseitigen System von aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten zeitigen Ausweitungen oder Beschränkungen auf der einen in der Regel auch Veränderungen auf der anderen Seite des Beamtenverhältnisses. Ein „Rosinenpicken“ lässt das Beamtenverhältnis nicht zu. […] [159] Ein möglichst schonender Ausgleich […] kann nicht durch die Gewährung eines eingeschränkten Streikrechts unter besonderen […] Voraussetzungen wie etwa einer Anzeige- oder Genehmigungspflicht geplanter Streikmaßnahmen erreicht werden. […] Zwar reduzierte ein unter derartigen Bedingungen stehendes (eingeschränktes) Streikrecht die negativen Folgen der Streiktätigkeit für die Grundrechtsverwirklichung Dritter, etwa Eltern und Schüler, sowie die Beeinträchtigungen für die Funktionsfähigkeit der Verwaltung. […] Allerdings wäre dies […] nur dann möglich, wenn sich ein ausreichender Anteil der Beamten dazu entschiede, nicht zu streiken, oder von einer Streikteilnahme durch im Einzelfall ausgesprochene Verbote ausgeschlossen werden könnte. [160] Bei länger andauernden Arbeitskämpfen und der Beteiligung von Inhabern schulischer Funktionsstellen ließe sich zudem der […] staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag des Art. 7 Abs. 1 GG, kurz ein funktionierendes Schulsystem, nicht mehr durchgängig sicherstellen. […] Jura Intensiv [161] Eine praktisch konkordante Zuordnung von Koalitionsfreiheit und hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums verlangt auch nicht, das Streikverbot auf Teile der Beamtenschaft zu beschränken […]. Hiernach verbliebe es für Beamte, die schwerpunktmäßig hoheitsrechtliche Befugnisse […] ausübten, auch weiterhin bei einem Streikverbot; allen anderen Beamtinnen und Beamten wäre ein Streikrecht zuzubilligen. Gegen eine solche funktionale Aufspaltung des Streikrechts sprechen die mit dem Begriff der hoheitsrechtlichen Befugnisse zusammenhängenden Abgrenzungsschwierigkeiten. […] Unabhängig hiervon verzichtete die Anerkennung eines Streikrechts für „Randbereichsbeamte“ auf die Gewährleistung einer stabilen Verwaltung und der staatlichen Aufgabenerfüllung jenseits [des unmittelbar hoheitlichen Bereichs]. […] Selbst wenn Beamte künftig nur noch in dem Funktionsvorbehalt unterliegenden Bereichen eingesetzt würden, wären aus gegenwärtiger Perspektive noch auf Jahrzehnte auch außerhalb dieser Bereiche Bestandsbeamte mit Streikrecht vorhanden.“ Damit ist das Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit und Art. 33 V GG zugunsten des Streikverbots aufzulösen. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 07/2018 Öffentliches Recht 379 b) Vereinbarkeit mit der EMRK Wie bereits ausgeführt ist die EMRK zwar kein unmittelbarer Prüfungsmaßstab des BVerfG. Da das Grundgesetz aber – soweit dies möglich ist – völkerrechtsfreundlich auszulegen ist, kann ein Verstoß gegen die EMRK einen Grundrechtsverstoß begründen. Fraglich ist vor diesem Hintergrund, wie die EMRK im Rahmen einer Grundrechtsprüfung zu berücksichtigen ist. „[135] In der Perspektive des Grundgesetzes kommt insbesondere […] das Verhältnismäßigkeitsprinzip als verfassungsimmanenter Grundsatz in Betracht, um Wertungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen: „Heranziehung als Auslegungshilfe“ kann vor diesem Hintergrund bedeuten, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen. [174] Art. 9 Abs. 3 GG sowie die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach auch deutsche Beamtinnen und Beamte ausnahmslos dem persönlichen Schutzbereich der Koalitionsfreiheit unterfallen, allerdings das Streikrecht als eine Einzelausprägung von Art. 9 Abs. 3 GG aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts (Art. 33 Abs. 5 GG) von dieser Personengruppe nicht ausgeübt werden kann, stehen mit den konventionsrechtlichen Wertungen in Einklang. [176] Unabhängig davon, ob das Streikverbot für deutsche Beamte einen Eingriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK darstellt, ist es wegen der Besonderheiten des deutschen Systems des Berufsbeamtentums jedenfalls nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK beziehungsweise Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gerechtfertigt.“ Demnach liegt eine Grundrechtsverletzung der B nicht vor, sodass die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist. Jura Intensiv FAZIT Zentrale Aussagen der Entscheidung sind: • Die EMRK ist kein direkter Prüfungsmaßstab für das BVerfG, findet aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Berücksichtigung und kann so zu einem Grundrechtsverstoß führen. • Der Schutzbereich des Art. 9 III GG wird nicht durch Art. 33 V GG begrenzt; vielmehr handelt es sich bei Art. 33 V GG um eine Schranke der Koalitionsfreiheit. • Obwohl Koalitionen nur spezielle Ausprägungen von Vereinigungen i.S.v. Art. 9 I GG sind, ist der Gesetzesvorbehalt des Art. 9 II GG auf Koalitionen nicht anwendbar. • Das Streikverbot zählt zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums i.S.v. Art. 33 V GG. • Eine ausdrückliche einfach-gesetzliche Verankerung des Streikverbots ist nicht erforderlich. • Das Streikverbot für Beamte steht im Einklang mit der EMRK. In einem obiter dictum lässt das BVerfG zudem erkennen, dass es das Streikverbot für einen Verfassungsgrundsatz hält, der sich im Kollisionsfall auch gegen die EMRK durchsetzt (Grenze der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes). Aufbauproblem: Wo wird die EMRK im Rahmen einer Grundrechtsprüfung erörtert? Lösung: Verhältnismäßigkeitsprüfung Das BVerfG hat die einschlägige Rechtsprechung des EGMR umfassend ausgewertet (Rn 165 ff. des Urteils) – was in einer Klausur nicht verlangt werden kann – und kann keinen Widerspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung erkennen. Rechtfertigung folgt aus den obigen Überlegungen zur praktischen Konkordanz. Zudem rechnet das BVerfG die beamteten Lehrer zur Staatsverwaltung i.S.v. Art. 11 II 2 EMRK. Rn 172 des Urteils © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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