Aufrufe
vor 2 Jahren

RA Digital - 07/2021

  • Text
  • Bundesregierung
  • Beschluss
  • Stgb
  • Recht
  • Urteil
  • Verlags
  • Inhaltsverzeichnis
  • Anspruch
  • Intensiv
  • Jura
Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

378 Referendarteil:

378 Referendarteil: Öffentliches Recht RA 07/2021 Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst sind, und ob hierzu auch die längerfristige Inanspruchnahme öffentlicher Anlagen gehört. Darstellung des Meinungsstreits Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, Einleitung Rn 27, 37; Kanther, NVwZ 2001, 1239, 1242 Offen gelassen: BVerfG, Beschluss vom 28.6.2017, 1 BvR 1387/17, juris Rn 22, 23; OVG Hamburg, Beschluss vom 5.7.2017, 4 Bs 148/17, juris Rn 49 OVG Saarlouis, Beschluss vom 26.3.2021, 2 B 84/21, juris Rn 14 zu einem sogenannten Klimacamp mit Verweis u.a. auf OVG Münster, Beschluss vom 16.6.2020, 15 A 3138/18, juris Rn 56 ff. Subsumtion des konkreten Sachverhalts unter Berücksichtigung des Versammlungszwecks und der Ausgestaltung der Versammlung. VG Augsburg, Urteil vom 6.11.2020, Au 8 K 20.1179, juris Rn 38; VG Berlin, Beschluss vom 5.6.2019, 1 L 179/19, juris Rn 25 BVerfG, Beschluss vom 21.9.2020, 1 BvR 2152/20 u. 1 BvR 2146/20, (zum Dannenröder Forst); OVG Münster, Beschluss vom 16.6.2020, 15 A 3138/18 (zum Klimacamp im Rheinland 2017) Während in der Literatur aus Protest errichteten Zeltlagern zum Teil die Versammlungseigenschaft abgesprochen wird, da es sich dabei überwiegend um Selbsthilfeaktionen handele, bei zeitlich unbefristet errichteten Zeltlagern auf öffentlichen Plätzen das als konstitutiv herausgestellte Merkmal der „kürzeren Dauer“ fehle und Überschneidungen zur individuellen Lebensgestaltung unvermeidlich seien, wird die Frage der Schutzbereichseröffnung in der Rechtsprechung mitunter offengelassen und zugunsten der Versammlungsteilnehmenden unterstellt. Zur Frage der Zuordnung von infrastrukturellen Begleiteinrichtungen – zu denen grundsätzlich auch Zelte zum Übernachten zählen – zum Schutzbereich der Versammlungsfreiheit wird vertreten, dass diese nicht in jedem Fall gegeben, sondern nur dann anzunehmen sei, wenn die jeweils in Rede stehenden Gegenstände und Hilfsmittel zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional, symbolisch oder konzeptionell im Sinne der konkreten kollektiven Meinungskundgabe notwendig seien. Ob diese Notwendigkeit gegeben ist, sei von den Versammlungsbehörden nach einem objektiven Maßstab im Einzelfall zu beurteilen, bei der sich die rechtliche Beurteilung, ob überhaupt eine Versammlung vorliege, danach richte, ob sich die Veranstaltung aus der Sicht eines durchschnittlichen Betrachters als Versammlung darstelle, und ob der Veranstalter sein Konzept schlüssig dargelegt habe. Vorliegend ergibt sich die Zuordnung der Versammlung in ihrer Gesamtheit zum Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG bereits aus dem Umstand, dass das geplante Übernachten in den Zelten einen versammlungsspezifischen, inhaltlichen Bezug zum Versammlungsthema aufweist und das Protestcamp konzeptionell so ausgelegt ist – und zwar seit der ersten Kontaktaufnahme mit der Versammlungsbehörde –, dass die ununterbrochene Präsenz unmittelbar vor dem Bremer Rathaus und damit die dauerhafte Konfrontation der aus Sicht der Versammlungsteilnehmenden verantwortlichen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger beabsichtigt ist. Aufgrund des zeitlich nicht befristeten, aber ausweislich der Kooperationsgespräche auf ein Jahr ausgelegten Protestes ist grundsätzlich auch die Notwendigkeit begründet, Möglichkeiten der Teilnehmenden zur Erholung zu schaffen. Jura Intensiv Die streitgegenständlichen Infrastruktureinrichtungen zur Übernachtung sowie die geplante Bühne auf der Erweiterungsfläche am oberen Domshof sind auch nicht als Hilfsmittel zu betrachten, die losgelöst vom eigentlichen Versammlungsort aufgestellt werden sollen, wobei sich die Frage der Zuordnung besonders stellen würde. Die dazu ergangenen Entscheidungen haben gemein, dass es sich um Proteste an dezentral gelegenen Orten handelte und die Teilnahme an diesen Protesten für den Großteil der Teilnehmenden bereits aus logistischen Gründen nur durch das Übernachten in einem eingerichteten Camp möglich war. Die aktuell in mehreren deutschen Städten eingerichteten Klimacamps zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass sie an zentral gelegenen Orten errichtet werden und eine Teilnahme an den im und rund um das Camp stattfindenden Aktionen nicht zwingend ein Übernachten am Versammlungsort erfordert. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 07/2021 Referendarteil: Öffentliches Recht 379 Das dauerhafte Verweilen an dem Versammlungsort, das auch die Nachtstunden umfasst, ist jedoch gerade Teil des Protestes und dient nicht allein der Bequemlichkeit der Teilnehmenden. Durch die dauerhafte Präsenz der Teilnehmenden am Veranstaltungsort unter Verwendung entsprechender Transparente mit Bezügen zur Klimapolitik kommt zum Ausdruck, dass sogenannte Klimacamps als solche auf die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung gerichtet sind. Die kollektive Meinungskundgabe findet nicht allein im Rahmen der jeweils durchgeführten Aktionen, sondern durch das errichtete Camp selbst als neue Form des Protestes statt. Finden – wie vorliegend – am Veranstaltungsort, d.h. im Protestcamp selbst, Aktionen mit Bezug zum Versammlungsthema statt, weist das dauerhafte Campieren auch einen inhaltlichen Bezug zum Versammlungsthema auf und lässt die Versammlungseigenschaft nicht entfallen. Entscheidend kommt vorliegend hinzu, dass dem Übernachten am Versammlungsort aufgrund der Erweiterung des Versammlungsmottos am 19.04.2021 („Die Klimakrise nicht verschlafen!“) neben dem konzeptionellen ein symbolischer Zusammenhang mit dem Versammlungszweck beizumessen ist. Das Übernachten ist danach zur Verwirklichung der konkreten kollektiven Meinungskundgabe notwendig. [...] Steht danach fest, dass das Protestcamp in seiner Gesamtheit von der Versammlungsfreiheit geschützt ist, besagt dies noch nichts darüber, ob das Aufstellen von Infrastruktureinrichtungen in rechtlich zulässiger Weise untersagt werden kann. Die Einbeziehung in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG hat lediglich zur Folge, dass eine grundrechtsoptimierende Abwägung mit entgegenstehenden gesetzlichen Vorschriften zu erfolgen hat, die bei einer unterbliebenen Einbeziehung nicht angezeigt ist. Ist ein Protestcamp den Regeln des Versammlungsrechts zu unterstellen, ist die Versammlungsbehörde dem Grunde nach befugt, angemeldete Infrastruktureinrichtungen wie Zelte zu untersagen, wenn von ihnen eine Gefahr für ein öffentliches Schutzgut ausgeht, also die öffentliche Sicherheit in Gestalt der drei Teilschutzgüter der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen sowie der Errichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt oder das Schutzgut der öffentlichen Ordnung betroffen ist. Im Rahmen der dann vorzunehmenden Abwägung, welche Interessen überwiegen, kann die Versammlungsbehörde auch berücksichtigen, ob die jeweilige Infrastruktureinrichtung zwingend notwendig ist, um den Versammlungszweck nicht zu gefährden. Jura Intensiv Für den hier allein maßgeblichen Zeitraum bis zum 07.05.2021 lässt sich anhand des Vortrags der Beteiligten sowie des vorgelegten Verwaltungsvorgangs nicht feststellen, dass der untersagte Aufbau von Zelten und einer Bühne zum Zwecke der Abwehr einer Gefahr für ein öffentliches Schutzgut gerechtfertigt ist. Insbesondere sind für diesen Zeitraum keine konkreten kollidierenden Rechte Dritter oder gewichtige öffentliche Sicherheitsbelange ersichtlich, hinter denen das Selbstbestimmungsrecht des Antragstellers zurücktreten müsste. [...] Soweit die Versammlungsbehörde auf kollidierende Interessen Dritter bezüglich der Nutzung des gewählten Versammlungsortes verweist, hat sie es Die Ausführungen verdeutlichen, dass sich eine pauschale Beurteilung, ob ein Protestcamp in den Schutzbereich von Art. 8 I GG fällt, verbietet und stets die konkreten Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen sind. Ganz wichtige Klarstellung Kanther, NVwZ 2001, 1239, 1242 Gefahr für öffentliche Sicherheit oder Ordnung VG Berlin, Beschluss vom 5.6.2019, 1 L 179/19, juris Rn 31; OVG Hamburg, Beschluss vom 5.7.2017, 4 Bs 148/17, juris Rn 49 ff. Bereits keine kollidierenden Rechte Dritter betroffen, sodass es auch keiner Abwägung bedurfte. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats