Aufrufe
vor 6 Jahren

RA Digital - 08/2017

  • Text
  • Jura
  • Intensiv
  • Inhaltsverzeichnis
  • Stgb
  • Verlags
  • Urteil
  • Beklagten
  • Recht
  • Beklagte
  • Strafrecht
Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

424 Öffentliches Recht

424 Öffentliches Recht RA 08/2017 Umfang der staatlichen Neutralitätspflicht in Gerichtsverfahren Rechtsunkundiger Verfahrensbeteiligter kann nicht zwischen Richtern/ Staatsanwälten und Referendaren unterscheiden Erläuterung im Gerichtsverfahren, was für eine Funktion ein Referendar hat, ist ungeeignet, um Beschädigung des Vertrauens in Unabhängigkeit der Justiz zu verhindern. Das ist der entscheidende Unterschied zur oben zitierten 2. Kopftuchentscheidung des BVerfG (RA 2015, 197) und zum Kopftuchverbot in öffentlichen Kindertagesstätten (BVerfG, NVwZ 2017, 549). Gegenläufige Interessen der Rechtsreferendare Kein Zwang, das Kopftuch abzunehmen, um die Ausbildung überhaupt absolvieren zu können. „Eine Rechtsreferendarin oder ein Rechtsreferendar, die oder der auf der Richterbank sitzt, wird prima facie allein durch diese Positionierung von den Verfahrensbeteiligten als Repräsentant der staatlichen - rechtsprechenden - Gewalt wahrgenommen. Das gilt unabhängig davon, dass Rechtsreferendaren keine richterliche Entscheidungsgewalt zukommt. Soweit die Verfahrensbeteiligten nicht juristisch vorgebildet und mit der juristischen Ausbildung und dem Rechtsreferendariat vertraut sind, werden sie ohne weitere Erklärung des Richters zur Ausbildungssituation hierum nicht wissen. Das ist bei vor Gericht auftretenden Bürgerinnen und Bürgern der Regelfall. Selbst wenn […] die Ausbilderin oder der Ausbilder die Stellung und Funktion der Rechtsreferendare erläutert und erklärt, dass diesen keine Entscheidungsgewalt zukommt, ist beachtlich, dass sich Bürger vor Gericht in einer Situation befinden, in der sie wegen der richterlichen Entscheidungsgewalt kaum geneigt sein werden, Erklärungen des Richters oder der Richterin hierzu infrage zu stellen. Eine Beschädigung des Vertrauens in die Unabhängigkeit der Justiz ist dann bereits eingetreten. Es erschließt sich vor diesem Hintergrund nicht, wie es möglich sein soll, dass der vom Verwaltungsgericht für angezeigt gehaltene „schonende Ausgleich“ der widerstreitenden Positionen durch Erläuterung der Funktion der Rechtsreferendare durchführbar sein soll. Dessen ungeachtet ist eine Sitzung vor Gericht nicht der Ort, an dem es angezeigt ist, die genaue Funktion und die religiöse oder weltanschauliche Grundeinstellung der Repräsentanten des Gerichts nach dem äußeren Anschein zu erläutern oder zu diskutieren. Insofern unterscheidet sich die Situation von der Situation in der Schule oder gar einer Kindertagesstätte, in der sich die Beteiligten nicht nur einmalig und nicht in einer aus der richterlichen Entscheidungsgewalt resultierenden Über- und Unterordnungssituation begegnen. Umso mehr werden Rechtsreferendare als Repräsentanten staatlicher Gewalt wahrgenommen, wenn sie mit richterlichen Verfahrenshandlungen wie der Durchführung von Beweisaufnahmen betraut werden. In dieser Situation treten sie, wenn auch ohne Entscheidungsgewalt ausgestattet, nur zu Ausbildungszwecken für Prozessbeteiligte nach außen wirkend in die Position der Richterin oder des Richters ein. Entsprechendes gilt für die Wahrnehmung von Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft, […]. Erschwerend käme in Bezug auf die Wahrnehmung von Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft hinzu, dass in einer solchen Situation kein Ausbilder anwesend ist. Jura Intensiv Demgegenüber sind die Nachteile für Rechtsreferendare […] dadurch, dass sie vor die Wahl gestellt wird, entweder ihr Kopftuch abzunehmen oder aber nicht auf der Richterbank Platz nehmen und Verfahrenshandlungen vornehmen zu dürfen, von geringerem Gewicht. Die Antragstellerin wird zunächst nicht gezwungen, ihr Kopftuch abzunehmen. Ihr steht es frei, der gerichtlichen Verhandlung mit Kopftuch im Zuschauersaal beizuwohnen. Dadurch kann sie in gleicher Weise dem Geschehen folgen wie von der Richterbank aus. Lediglich Verfahrenshandlungen wie Beweisaufnahmen, Anhörungen vor dem Anhörungsausschuss in der Verwaltungsstation oder Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft […] darf sie mit Kopftuch nicht durchführen. Hieraus ersteht ihr auch kein gravierender Nachteil. Der Antragsgegner hat zugesichert, dass sich die Nichtdurchführung solcher Tätigkeiten bei der Benotung nicht Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 08/2017 Öffentliches Recht 425 nachteilig auswirken dürfe […]. Die selbstständige Wahrnehmung derartiger Tätigkeiten gehört auch nicht zu den nach den §§ 32 - 34 JAG […] verbindlich durchzuführenden Tätigkeiten im Rahmen der Referendarausbildung. Es ist kaum ein Ort denkbar, an dem die Wahrung staatlicher Neutralität durch ihre Repräsentanten so bedeutsam ist wie vor Gericht, wo die Verfahrensbeteiligten eine in jeder Hinsicht unabhängige Entscheidung von weltanschaulichen, politischen oder religiösen Grundeinstellungen erwarten. Werden durch das Erscheinungsbild der Repräsentanten der Rechtsprechungsgewalt Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz begründet, ist das staatliche Neutralitätsgebot in seinem Kernbereich betroffen. Daher ist dort, wo Rechtsreferendare nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als Repräsentanten der Justiz wahrgenommen werden, die hierdurch begründete abstrakte Gefahr für eine Beschädigung des Vertrauens bei den Verfahrensbeteiligten in die Neutralität des Gerichts und Unabhängigkeit der Entscheidungsfindung ausreichend, um Rechtsreferendaren das Tragen religiös konnotierter Kleidungsstücke in dieser Situation zu untersagen. Das gilt nicht nur dann, wenn Rechtsreferendare mit Verfahrenshandlungen betraut werden, sondern auch, wenn sie auf der Richterbank Platz nehmen. Die Grundrechte der Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare nach Art. 4 Abs. 1, 2, und 12 Abs. 1 GG haben nach Abwägung demgegenüber zurückzutreten.“ Demnach liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Rechtsgrundlage vor. Da die Rechtsfolge ein gebundene Entscheidung ist („dürfen … nicht“), ist die Anordnung gegenüber R rechtmäßig. FAZIT Es ist zu betonen, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist. Das BVerfG hat in seiner Eilrechtsentscheidung nach § 32 BVerfGG hervorgehoben, dass die bereits erhobene Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und seiner Entscheidung ausschließlich eine Folgenabwägung zugrunde lag. Gleichwohl kann als dauerhafte Lehre aus dem Beschluss des VGH Kassel festgehalten werden, dass hinsichtlich der staatlichen Neutralitätspflicht ganz genau darauf zu achten ist, um welchen Funktionsträger es geht. Lehrer, Erzieher und Teile der Beamtenschaft sind richtigerweise anders zu behandeln als insbesondere Richter, Staatsanwälte und Polizeivollzugsbeamte. Für letztere gilt eine strikte Neutralitätspflicht bei der Vornahme dienstlicher Handlungen, sodass bereits die abstrakte Gefahr eines Vertrauensverlustes in die staatliche Neutralität genügt, um das sichtbare Tragen religiöser Kleidung oder Symbole zu untersagen, was letztlich bedeutet, dass derartige Kleidung und Symbole bei Amtshandlungen gegenüber dem Bürger generell nicht getragen werden dürfen. Jura Intensiv Gericht = Ort absoluter staatlicher Neutralität Abstrakte Gefahr für Beschädigung des Vertrauens in staatliche Neutralität genügt, um Rechtsreferendaren das Tragen religiöser Kleidung und Symbole zu untersagen. BVerfG, Beschluss vom 27.06.2017, 2 BvR 1333/17, Rn 34 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats