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RA Digital - 08/2019

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404 Zivilrecht

404 Zivilrecht RA 08/2019 LEITSATZ 4. Bei der Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Parteien im Rahmen der nach § 574 Absatz 1 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung ist den Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden Grundrechten zum Ausdruck kommen. Dabei haben die Gerichte zu berücksichtigen, dass bezüglich der Anwendung und Auslegung des Kündigungstatbestands des § 573 Absatz 2 Nummer 2 BGB einerseits und der Sozialklausel des § 574 BGB andererseits dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten (im Anschluss an BVerfG, NJW-RR 1999, 1097; NJW-RR 1993,1358), so dass auch im Rahmen der Vorschrift des § BGB § 574 BGB die vom Vermieter beabsichtigte Lebensplanung grundsätzlich zu respektieren und der Rechtsfindung zugrunde zu legen ist (im Anschluss an BVerfGE 68, 361). Diesen Vorgaben werden die Gerichte nicht gerecht, wenn sie (wie das Berufungsgericht) dem Vermieter, der die Mietwohnung zum Zwecke der Selbstnutzung erworben hat, bei der Gewichtung und Abwägung der gegenläufigen Belange eine geringere Bedeutung zumessen als bei der Beurteilung, ob dieses Vorgehen einen Eigenbedarf im Sinne des § 573 Absatz 2 Nummer 2 BGB begründet, und einem solchen Nutzungswunsch einen geringeren Stellenwert als einem Eigenbedarf des ursprünglichen Vermieters zuweisen. I. Unbefristeter Mietvertrag Zwischen B und der Rechtsvorgängerin des K bestand ein unbefristeter Mietvertrag seit 1974. In diesen trat K gem. § 566 BGB durch den Erwerb des Eigentums kraft Gesetz ein. II. Kündigungsgrund gem. § 573 II Nr. 2 BGB Indem K die Wohnung als Wohnung für sich und seine Familienangehörigen nutzen will, benötigt er sie. Damit liegt ein ausreichender Kündigungsgrund gem. § 573 II Nr. 2 BGB vor. [16a] Dass der Kläger den Kündigungsgrund des Eigenbedarfs durch den Erwerb der an die Beklagten zu 1 vermieteten Wohnung selbst verursacht hat, schließt eine Kündigung nach § 573 Absatz 2 Nummer 2 BGB nicht aus (BGH, Beschluss vom 20. Januar 1988, VIII ARZ 4/87) Denn eine Gesetzesauslegung, die dem Eigentümer das Kündigungsrecht allein deshalb versagt, weil er den Bedarfsgrund willentlich herbeigeführt hat, würde die durch Art. 14 Absatz 1 GG garantierte Befugnis des Eigentümers missachten, sein Leben unter Nutzung seines Eigentums nach seinen Vorstellungen einzurichten (BVerfGE 79, 292) Wer finanzielle Mittel - oft nach längerer Ansparung und/oder unter Aufnahme von Krediten - dazu verwendet, eine Eigentumswohnung zu erwerben, um in dieser selbst zu wohnen, gestaltet sein Leben selbst dann vernünftig und nachvollziehbar, wenn er sich hierzu allein deswegen entschließt, um schlichtweg „Herr seiner eigenen vier Wände“ zu sein (BVerfG, aaO). Erst recht hat dies zu gelten, wenn - wie hier - der Ankauf erfolgt, um eine Verbesserung der Wohnverhältnisse zu erreichen. III. Kündigungserklärung gem. § 568 I BGB Die Kündigungserklärung des K erfolgte am 22.01.2016 schriftlich und entspricht damit der Schriftform des § 568 I BGB. IV. Kein erfolgreicher Widerspruch der B gem. §§ 574, 574a, 574b BGB Die Kündigung ist nur wirksam, wenn B ihr nicht erfolgreich gem. §§ 574 ff. BGB widersprochen hat. Jura Intensiv 1. Form- und fristgerechter Widerspruch gem. § 574b BGB B hat form- und fristgemäß Widerspruch gegen die Kündigung erhoben. 2. Kündigungsgrund gem. § 574 BGB Als Kündigungsgrund hat B sich gem. § 574 I BGB auf einen Härtefall berufen. Fraglich ist, ob der Vortrag der B hierzu ausreicht. Feststellung einer Härte gem. § 574 I BGB [26] Nach § 574 Absatz 1 Satz 1 BGB kann der Mieter einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. [27] Die Annahme des Berufungsgerichts, die Beendigung des Mietverhältnisses bedeute für die Beklagte zu 1 und für ihre in ihrem Haushalt lebenden Söhne eine Härte, ist allerdings nicht zu beanstanden. [28] Das Berufungsgericht ist trotz seiner etwas missverständlichen Ausführungen zum Vorliegen einer Härte nach § 574 Absatz 1 Satz 1 BGB davon Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 08/2019 Zivilrecht 405 ausgegangen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur solche für die Beklagten mit einem Umzug verbundenen Nachteile als Härtegründe in Betracht kommen, die sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben (…) In seinen weiteren Erwägungen hat es aber zutreffend nicht jeden solcher Nachteile für eine Härte genügen lassen, sondern auf besondere im Falle der Beklagten zu 1 gegebene Umstände abgestellt, vor allem auf deren hohes Alter (79 Jahre zum Zeitpunkt der Kündigung), auf ihre durch eine Mietdauer von mehr als 40 Jahren in besonderem Maße bestehende Verwurzelung in ihrer Umgebung, auf ihren angegriffenen Gesundheitszustand (Demenzerkrankung) und zu befürchtende „weitere“ Verschlechterungen ihrer körperlichen und psychischen Verfassung. (…) [29] Auch das von ihm gefundene Ergebnis, dass aufgrund der genannten Umstände (hohes Alter der Mieterin, lange Mietdauer, Verwurzelung in der bisherigen Umgebung; ärztlich attestierte Demenzerkrankung, verbunden mit der Gefahr einer Verschlechterung im Falle eines Umzugs) vom Vorliegen einer Härte für die Beklagte zu 1 im Sinne des § 574 Absatz 1 Satz 1 BGB auszugehen ist, ist (…) nicht zu beanstanden. [31] (….) hält sich die Würdigung des Berufungsgerichts im Rahmen des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums, so dass seine Annahme, es liege eine Härte im Sinne von § 574 Absatz 1 Satz 1 BGB vor, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Denn das Berufungsgericht hat neben den genannten Umständen auch die fachärztlich bescheinigte Demenzerkrankung der Beklagten zu 1 berücksichtigt und seine tatrichterliche Beurteilung weiter auf die Erwägung gestützt, dass aufgrund dieses Krankheitsbilds bei ihr im Falle des Herauslösens aus ihrer näheren Umgebung eine - nach ihrem Grad nicht näher festgestellte - Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands zu erwarten steht. Damit hat es rechtsfehlerfrei erkannt, dass Erkrankungen des Mieters in Verbindung mit weiteren Umständen einen Härtegrund im Sinne des § 574 BGB darstellen können. In bestimmten Fällen, nämlich wenn der gesundheitliche Zustand des Mieters einen Umzug nicht zulässt oder im Falle eines Wohnungswechsels zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters besteht, kann sogar allein dies einen Härtegrund darstellen. Jura Intensiv Jeder Umzug ist mühsam und ärgerlich. Eine Härte liegt nur vor, wenn sich die Nachteile von den typischen Unannehmlichkeiten abheben. Diese liegen hier beim hohen Alter, der Verwurzelung im Stadtteil und vor allem in der Demenzerkrankung. Der Fall ist aus folgendem Grund nicht einfach zu verstehen: Der Vortrag genügt, um eine Härte im Sinne des § 574 I BGB anzunehmen. Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen gem. § 574 III BGB (s.u.) müssen die Mieterinteressen aber überwiegen. Dort ist eine andere Tatsachentiefe nötig. Die Auswirkungen des Umzugs auf die Gesundheit müssen konkretisiert und durch Sachverständigenbeweis bewiesen werden. Die Mieterin hätte hier ohne Weiteres gem. §§ 573 III, 574 III BGB obsiegt, wenn K bei der Kündigung seinen Eigenbedarf nicht ordentlich begründet hätte. Dann genügt bereits das Vorliegen einer Härte, um die Fortsetzung zu rechtfertigen. Entscheidend: Aufgrund der Erkrankung droht eine Verschlechterung der Gesundheit beim Umzug. Eine Härte liegt damit vor. Damit liegt eine Härte im Sinne des § 574 I BGB und ein Widerspruchsgrund vor. 3. Abwägung der widerstreitenden Interessen gem. § 574 III BGB Fraglich ist, ob gem. § 574 III BGB nach Abwägung der widerstreitenden Interessen das berechtigte Interesse des K an der Kündigung so überwiegt, dass eine Beendigung des Mietverhältnisses trotz der Härte gerechtfertigt ist. [36] (…) Der vom Berufungsgericht auf Seiten der Beklagten zu 1 festgestellten Härte im Sinne des § 574 Absatz 1 BGB (Alter, langjährige Verwurzelung, Demenzerkrankung) kommt auf der Grundlage seiner bislang getroffenen Feststellungen nicht das ihr vom Berufungsgericht zugebilligte Gewicht zu. Insbesondere hat es versäumt, tragfähige Feststellungen zu dem Umfang und den Auswirkungen der von den Beklagten geltend gemachten Erkrankungen der Beklagten zu 1 zu treffen. Zudem hat es angenommen, es liege bezüglich aller Beklagten (zusätzlich) der Härtegrund Die Interessen beider Seiten werden einer Abwägung unterzogen. Das Gericht muss einerseits feststellen, wie sich der Umzug negativ auf die Gesundheit auswirkt. Auf der anderen Seite muss es das Erlangungsinteresse des Vermieters, der selbst beengt wohnt, unter Einbeziehung der Wertungen des Art. 14 GG berücksichtigen. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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