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RA Digital - 09/2016

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484 Öffentliches Recht

484 Öffentliches Recht RA 09/2016 Problem: Was ist Schmähkritik („geisteskranke Staatsanwältin“)? Einordnung: Grundrechte BVerfG, Beschluss vom 29.06.2016 1 BvR 2646/15 LEITSÄTZE (DER REDAKTION) 1. Wegen seines die Meinungs freiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. 2. Wird eine Äußerung unzutreffend als Schmähkritik eingestuft, liegt darin ein eigenständiger verfassungsrechtlicher Fehler, auch wenn die Äußerung im Ergebnis durchaus als Beleidigung bestraft werden darf. EINLEITUNG Wo verlaufen die Grenzen der Meinungsfreiheit? Wann liegt eine Schmähkritik vor? Mit diesen Fragen musste sich das BVerfG in der nachfolgend dargestellten Entscheidung beschäftigen. SACHVERHALT B ist Rechtsanwalt und vertrat als Strafverteidiger den Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren wegen Veruntreuung von Spendengeldern. Nachdem gegen den Beschuldigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft Haftbefehl erlassen worden war, kam es bei der Haftbefehlsverkündung zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der mit dem Verfahren betrauten Staatsanwältin und B, der der Ansicht war, dass sein Mandant zu Unrecht verfolgt wurde. Am Abend desselben Tages meldete sich ein Journalist, der eine Reportage über den Beschuldigten plante, telefonisch bei B. B wollte mit dem ihm unbekannten Journalisten nicht sprechen. Auf dessen hartnäckiges Nachfragen und weil er immer noch verärgert über den Verlauf der Ermittlungen war, äußerte er sich dann doch über das Verfahren und bezeichnete im Laufe des Telefonats die mit dem Verfahren betraute Staatsanwältin unter anderem als „dahergelaufene Staatsanwältin“, „durchgeknallte Staatsanwältin“, „widerwärtige, boshafte, dümmliche Staatsanwältin“ und „geisteskranke Staatsanwältin“. Das Landgericht verurteilte B wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Die Äußerungen seien ehrverletzend. Durch sie wären der Staatsanwältin in übertriebener Weise negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben, ihr der sittliche und soziale Geltungswert abgesprochen und letztlich attestiert worden, grundsätzlich sozial minderwertig und beruflich unzulänglich zu sein. Eine Rechtfertigung nach § 193 StGB liege nicht vor. Anlass, Kontext und Zielrichtung der Äußerungen seien nicht mehr der Kampf um das Recht gewesen, sondern Ausdruck einer persönlichen Fehde gegen die ermittelnde Staatsanwältin, die einer haltlosen Verteufelung gleichkomme. Dies ergebe sich schon daraus, dass die Äußerungen weder relativierend noch bezogen auf ganz bestimmte, einzelne Handlungen der Staatsanwältin abgezielt hätten, sondern sie insgesamt als Person und unabhängig von ihren Verhaltensweisen in den Vordergrund gestellt worden sei. Verletzt das Urteil den B in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit? Jura Intensiv LÖSUNG Das Urteil des Landgerichts verletzt B in seiner grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist. Inhaltsverzeichnis

RA 09/2016 Öffentliches Recht 485 I. Eingriff in den Schutzbereich Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 1. Hs. GG vorliegen. Art. 5 I 1 1. Hs. GG schützt für jedermann das Recht auf freie Meinungsäußerung. Unter Meinung ist jedes Werturteil zu verstehen, also jede Äußerung, die durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung geprägt ist. Auf den Inhalt und die Qualität der Äußerung kommt es nicht an. Selbst Beleidigungen sind vom Schutzbereich erfasst, wie sich im Umkehrschluss aus der In Art. 5 II GG normierten Schranke „Recht der persönlichen Ehre“ ergibt. Daher unterfallen auch die ehrbeeinträchtigenden Äußerungen des B dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Weiterhin muss ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit vorliegen. Das ist der Fall, wenn dem Einzelnen durch ein staatliches Handeln ein Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt. B erfährt für seine Äußerungen eine strafrechtliche Sanktion, was insbesondere die zukünftige Ausübung seiner Meinungsfreiheit teilweise unmöglich macht. Somit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des B vor. II. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er durch die Schranken des Grundrechts gedeckt ist. 1. Festlegung der Schranke Fraglich ist, welche Schranke für das Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG gilt. In Betracht kommt der qualifizierte Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II GG. Danach findet die Meinungsfreiheit ihre Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Hier könnte die Schranke der allgemeinen Gesetze einschlägig sein. Allgemeine Gesetze sind solche Bestimmungen, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines höherrangigen Rechtsguts dienen, also dem Schutz eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat. Dabei hat das einschränkende Gesetz seinerseits die besondere Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG zu beachten, das für einen demokratischen Rechtsstaat geradezu konstituierend ist und somit eines der vornehmsten und wichtigsten Grundrechte darstellt. Das begrenzende Gesetz wird also wiederum begrenzt durch die hohe Wertigkeit der Meinungsfreiheit (sog. Wechselwirkungslehre). Die beschränkenden gesetzlichen Vorschriften, auf die sich die strafgerichtliche Entscheidung stützt, sind §§ 185, 193 StGB, die den genannten Anforderungen des qualifizierten Gesetzesvorbehalts genügen. Jura Intensiv 2. Schranken-Schranken Die konkrete Anwendung dieser strafrechtlichen Vorschriften durch das Gericht muss dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen. Fraglich ist insoweit die Angemessenheit der gerichtlichen Entscheidung. „[12] […] Dies verlangt grundsätzlich eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch ihr Verbot andererseits. […] Persönlicher und sachlicher Schutzbereich Definition „Meinung“ Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn 615 Definition „Eingriff“ Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn 261 Das BVerfG betrachtet die Schranken des Jugend- und Ehrschutzes nur als Ausprägungen der allg. Gesetze (vgl. dazu JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 369). Definition „allgemeine Gesetze“ Wechselwirkungslehre kann hier schon erwähnt werden, hat eigentlichen Anwendungsbereich aber erst in der Angemessenheitsprüfung. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser beiden Vorschriften ist derart unproblematisch, dass sie mit einem kurzen Ergebnissatz festgehalten werden kann. In einer Klausur wären das legitime Ziel, die Geeignetheit und Erforderlichkeit vorab kurz anzusprechen, sie sind hier aber unproblematisch. Grds. Abwägung geboten Inhaltsverzeichnis

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