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RA Digital - 09/2017

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478 Öffentliches Recht

478 Öffentliches Recht RA 09/2017 Nein, einschlägig ist nur Art. 2 I GG (a.A. z.B. Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn 814; Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rn 88 ff.). Teleologisches Argument: Art. 9 I GG schützt nur die private Vereinigungsfreiheit. Vgl. BVerfGE 10, 89, 102; 38, 281, 297f. Das ist aus Sicht des BVerfG der entscheidende Unterschied zwischen Vereinigung und Körperschaft. BVerfGE 38, 281, 298 Historisches Argument Anschauliche Darstellung des gesamten Problems bei: Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 528 „[78] Im Hinblick auf die der Beitragspflicht zugrunde liegende, durch § 2 Abs. 1 IHKG angeordnete Pflichtmitgliedschaft ist der Schutzbereich des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 GG nicht eröffnet. Das spezielle Grundrecht des Art. 9 Abs. 1 GG garantiert die Freiheit, sich aus privater Initiative unabhängig vom Staat mit anderen zu Vereinigungen zusammenzuschließen, sie zu gründen oder ihnen fernzubleiben. Die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG zielt auf freiwillige Zusammenschlüsse zu frei gewählten Zwecken. Eine gesetzlich angeordnete Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft beruht hingegen auf einer Entscheidung des Gesetzgebers, bestimmte öffentliche Aufgaben auch unter kollektiver Mitwirkung privater Akteure zu erledigen. In Art. 9 GG findet dagegen das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung zu selbst definierten Zwecken seinen grundrechtlichen Niederschlag. Das beide Zusammenschlüsse verbindende Element ist zwar das Kollektiv, doch unterliegen Zweck und Gehalt nach Art. 9 GG der Selbstbestimmung, was die Vereinigung erheblich von einer gesetzlich geschaffenen Körperschaft unterscheidet. Art. 9 Abs. 1 GG enthält insbesondere das Recht, in einer Distanz zum Staat und zu politischen Parteien eigene Vereinigungen zu gründen oder ihnen fernzubleiben. Das weitere Recht, nicht durch Pflichtmitgliedschaft von „unnötigen“ Körperschaften in Anspruch genommen zu werden, ergibt sich demgegenüber aus Art. 2 Abs. 1 GG. [79] Dieses Verständnis von Art. 9 Abs. 1 GG wird durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Schon im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee wurde der Vorschlag abgelehnt, die grundrechtliche Garantie der Vereinigungsfreiheit um eine Regelung zu ergänzen, dass niemand gezwungen werden dürfe, sich einer Vereinigung anzuschließen. Es sollte insbesondere auch künftig möglich sein, Angehörige bestimmter Berufe in öffentlich-rechtlichen Organisationen verpflichtend zusammenzufassen. Der Parlamentarische Rat befasste sich mit der Reichweite von Art. 9 Abs. 1 GG in Kenntnis der damals schon lange bestehenden Kammern und ähnlicher Körperschaften. Er wollte diese mit dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit nicht abschaffen. […].“ Jura Intensiv Demnach ist der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 9 I GG hier nicht eröffnet. B. Verletzung des Art. 2 I GG Die Pflichtmitgliedschaft in der IHK und die daraus resultierende Beitragspflicht (§ 3 II, III IHKG) könnten A und B aber in ihrem Grundrecht aus Art. 2 I GG verletzen. Schutzbereich H.M.: Weite Auslegung I. Eingriff in den Schutzbereich Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 I GG vorliegen. Art. 2 I GG schützt nach seinem Wortlaut die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das könnte dafür sprechen, dass die Norm nur die engere persönliche Lebenssphäre umfasst, d.h. Verhaltensweisen, die von besonderer Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung sind. Andererseits ergibt eine historische Auslegung der Bestimmung, dass alle Verfassungsentwürfe von einem weiten Schutzbereich ausgegangen sind. So enthielt der Herrenchiemseer Entwurf die Formulierung: „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 09/2017 Öffentliches Recht 479 zu tun, was anderen nicht schadet”. Lediglich aus stilistischen Gründen wurde diese Formulierung nicht in den endgültigen Gesetzestext übernommen. Des Weiteren ist im Rahmen einer teleologischen Auslegung der Norm festzustellen, dass nur ihre weite Auslegung zu einem umfassenden Grundrechtsschutz führt und somit eine lückenlose Kontrolle aller staatlichen Gewalt anhand der Grundrechte gewährleistet. Demnach schützt Art. 2 I GG die allgemeine Handlungsfreiheit, d.h. jedes menschliche Verhalten. Demnach unterfällt auch die Zwangsmitgliedschaft in einer IHK dem Schutz des Art. 2 I GG. Weiterhin muss ein Eingriff in den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit vorliegen. Das ist der Fall, wenn dem Einzelnen durch ein staatliches Handeln ein Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt. Sowohl die Pflichtmitgliedschaft in der IHK als auch die daraus resultierende Beitragspflicht erfüllen diese Voraussetzungen, sodass ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 I GG vorliegt. II. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in den Schutzbereich ist gerechtfertigt, soweit er von den Schranken des Grundrechts gedeckt ist. 1. Festlegung der Schranke Fraglich ist, welche Schranke für das Grundrecht aus Art. 2 I GG gilt. Die Vorschrift selbst zieht eine Grenze für die Grundrechtsausübung in Gestalt der Rechte anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung sowie des Sittengesetzes. Diese sog. Schrankentrias ist angesichts des dargestellten weiten Schutzbereichs des Art. 2 I GG ebenfalls weit auszulegen. Diese gebotene weite Auslegung zeigt sich an dem Merkmal der verfassungsmäßigen Ordnung. Darunter wird die gesamte Rechtsordnung verstanden, also jeder Rechtssatz. Auf diese Einschränkungsmöglichkeit stützen sich die umstrittenen Bestimmungen des IHKG. 2. Schranken-Schranken Die streitgegenständlichen Vorschriften des IHKG müssen den sog. Schranken- Schranken genügen, d.h. formell und materiell verfassungsmäßig sein. a) Formelle Verfassungsmäßigkeit Formell ist das IHKG verfassungsmäßig. Jura Intensiv BVerfGE 6, 32, 36; Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 201 Eingriff BVerfGE 66, 39, 60 BVerfGE 74, 129, 152; Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 214f. b) Materielle Verfassungsmäßigkeit Die maßgeblichen Vorschriften des IHKG müssen auch materiell verfassungsmäßig sein. aa) Verhältnismäßigkeit Das setzt primär voraus, dass sie den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügen. (1) Legitimer Zweck Der Zweck der Industrie- und Handelskammern ergibt sich aus § 1 IHKG. Danach dienen die Kammern dazu, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden wahrzunehmen, die gewerbliche Wirtschaft zu fördern und die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen zu berücksichtigen (§ 1 I IHKG), Aufgaben der Wirtschaftsförderung und Berufsbildung zu § 1 I-IV IHKG Mehrere Zwecke © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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