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RA Digital - 10/2016

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544 Referendarteil:

544 Referendarteil: Öffentliches Recht RA 10/2016 Auslegung eines Bescheides nach dem objektiven Empfängerhorizont BVerwG, Urteil vom 24.7.2014, 3 C 23.13, juris Rn 18; OVG Münster, Beschluss vom 5.10.2015, 1 B 830/15, juris Rn 7 Typisch für Klausuren im 2. Examen: es werden keine „großen Juraprobleme“ erörtert, sondern ganz genau die Inhalte der Bescheide und Schriftsätze ausgewertet. Nach dem Prozessvorspann folgt der zusammenfassende Ergebnissatz (Urteilsstil!). Ermächtigungsgrundlage: Das Gericht hat es offen gelassen, ob das Abschleppen eines Kraftfahrzeuges als Ersatzvornahme oder als Sicherstellung zu qualifizieren ist, da die Maßnahme jedenfalls unverhältnismäßig und daher rechtswidrig war. In einer Klausur muss dies jedoch entschieden werden. Danach ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der „wirkliche Wille“ zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Maßgeblich ist demnach der objektive Gehalt der Erklärung, d.h. der in der Willenserklärung zum Ausdruck kommende erklärte Wille, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung verstehen konnte bzw. nach Treu und Glauben verstehen durfte und musste („Empfängerhorizont“). Dabei markiert der Wortlaut der Erklärung zwar den Ausgangspunkt, ist aber nicht allein maßgeblich. Zu berücksichtigen sind vielmehr alle von dem Adressaten erkannten oder ihm erkennbaren Umstände vor und bei Ergehen der behördlichen Maßnahme, namentlich deren erkennbar verfolgter Sinn und Zweck. Erkennbar verfolgter Zweck des Leistungsbescheids war es, dem Halter des eingeschleppten Fahrzeugs die durch die Sicherstellung und Verwahrung entstandenen Kosten aufzuerlegen. Das ergibt sich bereits aus seinem Einleitungssatz, in dem das Fahrzeug als „Ihr nicht mehr für den Straßenverkehr zugelassenes Fahrzeug“ bezeichnet wird, sowie aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf die vorherige, ebenfalls an den Halter als Verfügungsberichtigten gerichtete Aufforderung, das Fahrzeug aus dem öffentlichen Straßenraum zu entfernen. Halter ist aber seinem eigenen unbestrittenen Vortrag zufolge der Kläger. Dass der Kläger nicht mit vollem Namen, sondern nur als „N. N1.“ bezeichnet wurde, ändert an dieser Auslegung nichts. Denn zur genauen Bezeichnung einer Person sind in aller Regel Nach- und Rufname ausreichend. Etwas Anderes kann nur dann gelten, wenn für die Behörde erkennbar eine Namensgleichheit und daraus folgende Verwechslungsgefahr besteht. Dies war hier aber nicht der Fall, denn in seinem Vorausgegangenen Schreiben vom 31. August 2015 erwähnt der Kläger einen „N. N1.“ nicht. Überhaupt ist eine Person dieses Namens den Behörden offenkundig nicht bekannt; eine Suche nach „N. N1.“ im behördlichen Meldeportal brachte lediglich den Kläger hervor. Die Beklagte hatte also im hier maßgeblichen Erlasszeitpunkt keinerlei Veranlassung, ihre Zustellung durch den zweiten Vornamen zu präzisieren. Vor diesem Hintergrund konnte ein objektiver Dritter den Bescheid nur so verstehen, dass er sich an den Kläger als Halter des Fahrzeugs richten soll. Nur dieser kann im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO behaupten, durch den belastenden Leistungsbescheid in eigenen Rechten verletzt zu sein. Jura Intensiv Die zulässige Klage ist begründet. Der Leistungs- und Gebührenbescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die an den Kläger gerichtete Aufforderung, die für die eingeleitete Abschleppmaßnahme entstandenen Kosten in Höhe von insgesamt 174,85 Euro zu zahlen, findet ihre Ermächtigungsgrundlage weder in § 77 Abs. 1 VwVG NRW, § 20 Abs. 2 Nr. 7, 8 VO VwVG NRW i.V.m. § 8, § 50 Abs. 2, § 51 Abs. 1 Nr. 1, § 52 PolG NRW noch in § 77 Abs. 1 VwVG NRW, § 20 Abs. 2 Nr. 7, 8 VO VwVG NRW i.V.m. § 46 Abs. 3, § 43 Nr. 1 PolG NRW. Ob die hier in Rede stehende Abschleppmaßnahme als Sicherstellung gemäß § 46 Abs. 3, § 43 Nr. 1 PolG NRW oder als Ersatzvornahme einer Beseitigungsmaßnahme gemäß § 8, § 50 Abs. 2, § 51 Abs. 1 Nr. 1, § 52 PolG NRW auf Grundlage der polizeirechtlichen Generalklausel anzusehen ist, kann dahinstehen, denn die eingeleitete Abschleppmaßnahme ist nach beiden Alternativen rechtswidrig. Inhaltsverzeichnis

RA 10/2016 Referendarteil: Öffentliches Recht 545 Zwar könnte vorliegend noch davon ausgegangen werden, dass wegen Verstoßes gegen § 31 Abs. 1 StVO und § 18 StrWG eine gegenwärtige bzw. konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestand, denn eine Gefahr im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne liegt jedenfalls bei einem Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung, mithin bei einer Zuwiderhandlung gegen formelle und materielle Gesetze vor. Allerdings war die Abschleppmaßnahme nicht verhältnismäßig. Soweit man die Abschleppmaßnahme als Ersatzvornahme ansieht, erfolgte diese vorliegend im Wege des Sofortvollzuges. Bei der am Fahrzeug angebrachten Aufforderung, das Fahrzeug bis zum 19. August 2015 zu entfernen, ansonsten werde es zwangsweise entfernt (Aufkleber), handelt es sich nicht um eine vollstreckbare Grundverfügung mit Zwangsmittelandrohung. Diese müsste dem Adressaten bekannt gegeben und darüber hinaus auch zugestellt werden (§ 63 Abs. 6 S. 1 VwVG NRW). Vorliegend liegt keine ordnungsgemäße Bekanntgabe (§ 41 VwVfG) - es fehlt bereits die Nennung eines Adressaten - auf jeden Fall aber keine ordnungsgemäße Zustellung vor. Die zufällige Kenntnisnahme des Aufklebers reicht hierfür nicht aus, sodass es hier dahingestellt bleiben kann, ob der Kläger Kenntnis von einer auf dem Fahrzeug angebrachten Aufforderung im oben genannten Sinne gehabt hatte. Darüber hinaus ergeben sich hierfür aus dem Verwaltungsvorgang auch keine Anhaltspunkte. Die Voraussetzungen des Verwaltungszwanges in Form des Sofortvollzugs lagen nicht vor. Nach § 55 Abs. 2 VwVG NW kann der Verwaltungszwang (auch in Form der Ersatzvornahme) ausnahmsweise im sofortigen Vollzug, d.h. ohne vorausgehenden, dem Pflichtigen das geforderte Verhalten aufgebenden Grundverwaltungsakt angewendet werden, wenn der sofortige Vollzug zur Verhinderung mit Strafe oder Geldbuße bedrohter Handlungen oder zur Abwendung einer drohenden Gefahr notwendig ist und die Behörde hierbei innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse handelt. Jura Intensiv Hier war das Einschreiten im Wege des sofortigen Vollzuges gemäß § 55 Abs. 2 VwVG NW nicht notwendig. Notwendig im Sinne dieser Vorschrift ist die Vollstreckung dann nicht, wenn das Vorgehen im Wege des sofortigen Vollzuges gegen die Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit (§ 58 Abs. 2 Satz 2 VwVG NW) und Verhältnismäßigkeit (§ 58 Abs. 2 Satz 1 VwVG NW) verstoßen würde. Besteht für die Behörde die Möglichkeit, im Wege des gestreckten Verfahrens vorzugehen, gegebenenfalls auch mittels mündlicher Ordnungsverfügung gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 OBG NRW, unter Anordnung der sofortigen Vollziehung und mittels kurzer Fristen, so muss sie davon Gebrauch machen. Denn der Sofortvollzug ist ein besonders schwerwiegender Eingriff, der im Interesse des rechtsstaatlichen Schutzes des Betroffenen auf besonders dringliche Ausnahmefälle begrenzt bleiben muss. Bei der Prüfung eines besonders dringlichen Ausnahmefalles ist im Hinblick auf das (sofortige) Abschleppen eines verkehrswidrig abgestellten Fahrzeuges die höchstrichterliche Rechtsprechung zu berücksichtigen, die u.a. ausführt, dass ein bloßer Verstoß etwa gegen straßenverkehrsrechtliche Verbote ohne konkrete Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer allein nicht ohne weiteres eine Abschleppmaßnahme rechtfertigt. § 18 I 1 StrWG NRW: „Die Benutzung der Straßen über den Gemeingebrauch hinaus ist unbeschadet des § 14a Abs. 1 Sondernutzung.“ Kurze (für eine Klausur zu kurze) Abhandlung des Tatbestandes. Sofortvollzug, da Beseitigungsaufforderung dem Kläger nicht bekannt gegeben bzw. zugestellt wurde. In den Bundesländern, die keinen Sofortvollzug kennen (z.B. Bad.- Württ.), läge eine unmittelbare Ausführung vor. Voraussetzungen für Sofortvollzug nach § 55 II VwVG NRW: Notwendigkeit des Sofortvollzugs und Handeln der Behörde innerhalb ihrer Befugnisse „Notwendigkeit“ = Verhältnismäßigkeit Sofortvollzug ist nicht notwendig, wenn Behörde im Wege des gestreckten Verfahrens vorgehen kann. OVG Münster, Beschluss vom 9.4. 2008, 11 A 1386/05 , juris Rn 18ff.; OVG Münster, Urteil vom 30.7.1998, 20 A 5664/96, juris Rn 20ff. Darlegung der allgemeinen Grundsätze Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.2.2002, 3 B 149/01; BVerwG, Beschluss vom 1.12.2000, 3 B 51.00; BVerwG, Urteil vom 14.5.1992, 3 C 3.90 Inhaltsverzeichnis

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