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RA Digital - 12/2017

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650 Öffentliches Recht

650 Öffentliches Recht RA 12/2017 Problem: Helmpflicht für Motorrad fahrenden Sikh Einordnung: Grundrechte/Straßenverkehrsrecht VGH Mannheim, Urteil vom 29.08.2017 10 S 30/16 LEITSATZ Das der Straßenverkehrsbehörde durch § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO hinsichtlich Befreiungen von der Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO eingeräumte Ermessen ist nicht bereits deswegen auf Null reduziert, weil einem Kraftradfahrer das Tragen eines Schutzhelms wegen der religiösen Pflicht zum Tragen eines Turbans nicht möglich ist. § 46 I 1 Nr. 5b StVO: „Die Straßenverkehrsbehörden können in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen […] 5b von den Vorschriften über das Anlegen von Sicherheitsgurten und das Tragen von Schutzhelmen (§ 21a)“. EINLEITUNG Ein Motorrad fahrender Sikh, der aus religiösen Gründen anstelle des Schutzhelmes einen Turban tragen möchte - dieser Sachverhalt ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch rechtlich interessant, wie die nachfolgende Entscheidung des VGH Mannheim zeigt. SACHVERHALT S ist als getaufter Sikh (sog. Amritdhari) in der Öffentlichkeit zum Tragen eines Turbanes, eines sog. Dastar, religiös verpflichtet. Weil er nicht gleichzeitig den Turban und einen Motorradhelm tragen könne, beantragte er bei der zuständigen Stadt K, ihn von der in § 21a II StVO geregelten Pflicht zum Tragen eines Schutzhelmes beim Führen eines Kraftrades zu befreien. K lehnte dies mit der Begründung ab, eine Ausnahmegenehmigung könne nur erteilt werden, wenn das Tragen eines Helmes aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei. Dementsprechend hatte K in den Jahren 2011 und 2015 einen anderen Motorradfahrer wegen Genickschmerzen von der Helmpflicht befreit. Nach der Antragstellung durch S hat K jedoch ihre Verwaltungspraxis dahingehend geändert, dass sie nunmehr auch aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ohne Weiteres eine Ausnahme von der Helmpflicht gewähren, sondern „die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich hinterfragen“ will. Darüber hinaus führt K aus, S sei im Besitz eines Führerscheins der Klasse B, müsse also nicht zwingend Motorrad fahren. Er könne zudem den öffentlichen Personennahverkehr benutzen. S entgegnet, andere Straßenverkehrsbehörden hätten Sikh aus religiösen Gründen von der Schutzhelmpflicht befreit. Jura Intensiv Hat S einen Anspruch auf Befreiung von der Schutzhelmpflicht? LÖSUNG S hat einen Anspruch auf Befreiung von der Schutzhelmpflicht, wenn er sich auf eine Anspruchsgrundlage berufen kann, deren Voraussetzungen vorliegen. A. Anspruchsgrundlage Als Anspruchsgrundlage kommt § 46 I 1 Nr. 5b StVO in Betracht. Als Ausnahmevorschrift dient die Norm zumindest auch den Interessen des Anspruchstellers (hier: der Verwirklichung der Glaubensfreiheit des S) und beinhaltet somit i.S.d. Schutznormtheorie ein subjektiv-öffentliches Recht, gerichtet auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Verwaltung. B. Anspruchsvoraussetzungen Weiterhin müssen die formellen und materiellen Voraussetzungen dieser Anspruchsnorm erfüllt sein. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 12/2017 Öffentliches Recht 651 S hat seinen Antrag an die zuständige Behörde adressiert und damit die formellen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. In materiell-rechtlicher Hinsicht müssen der Tatbestand und die Rechtsfolge der Anspruchsgrundlage erfüllt sein. I. Tatbestand „Die Anspruchsgrundlage hat keine der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Tatbestandsvoraussetzungen. Insbesondere ist die Frage des Vorliegens eines Einzelfalls bzw. eines besonderen Ausnahmefalls nicht auf Tatbestandsebene zu prüfen, sondern Teil der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren behördlichen Ermessensausübung.“ II. Rechtsfolge Auf der Rechtsfolgenseite eröffnet § 46 I 1 Nr. 5b StVO ein behördliches Ermessen. Angesichts des von S behaupteten gebundenen Befreiungsanspruchs müsste dieses Ermessen auf Null reduziert sein. D.h. der behördliche Entscheidungsspielraum muss sich so „verdichtet“ haben, dass nur noch eine Entscheidung, nämlich die Befreiung des S von der Schutzhelmpflicht, rechtmäßig ist. Hier könnte sich eine Ermessensreduzierung auf Null aus den Grundrechten des S ergeben. 1. Glaubensfreiheit, Art. 4 I, II GG Die möglicherweise verletzte Glaubensfreiheit des S könnte zu einer Reduzierung des behördlichen Ermessens auf Null führen. a) Eingriff in den Schutzbereich Dafür muss ein Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit vorliegen. Die Glaubensfreiheit des Art. 4 I, II GG ist ein Grundrecht, das jedermann zusteht und somit auch S. Weiterhin muss der sachliche Schutzbereich der Glaubensfreiheit eröffnet sein. Art. 4 I, II GG verbürgt nach seinem Wortlaut unterschiedliche Schutzbereiche. Das würde jedoch dazu führen, dass die Ausübung der religiösen Überzeugung nach Art. 4 II GG geschützt ist, während dies für die anderen in Art. 4 I GG genannten Freiheiten nicht der Fall ist. Für eine solche Privilegierung der Religionsfreiheit besteht aber kein sachlicher Grund. Daher ist davon auszugehen, dass Art. 4 I, II GG einen einheitlichen Schutzbereich bildet, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit umfasst. Geschützt ist dabei sowohl die innere Glaubens- und Gewissensfreiheit, also das Bilden und Haben eines Glaubens oder Gewissens (sog. forum internum) als auch die äußere Glaubens- und Gewissensfreiheit, d.h. die Verwirklichung des Glaubens oder Gewissens durch Wort und Tat (sog. forum externum). Dem Einzelnen muss die Möglichkeit gegeben sein, sein gesamtes Leben an seinem Glauben oder Gewissen auszurichten und entsprechend dieser Überzeugung zu handeln. Mit „Glauben“ ist die Überzeugung des Einzelnen von der Stellung des Menschen in der Welt und seinen Beziehungen zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten gemeint. Das bedeutet, dass ein transzendenter Bezug vorliegen muss. Jura Intensiv Da i.d.R. bei den formellen Anspruchsvoraussetzungen nur der Antrag an die zuständige Behörde zu prüfen ist, müssen in der Klausur nicht zwingend die Überschriften „formelle“ und „materielle Anspruchsvoraussetzungen“ verwendet werden. Keine Tatbestandsvoraussetzungen Vgl. BVerwGE 104, 154 Zentrales Problem: Ist das behördliche Ermessen auf Null reduziert? Voraussetzung für Ermessensreduzierung auf Null Ermessensreduzierung aufgrund der Grundrechte? Glaubensfreiheit, Art. 4 I, II GG Persönlicher Schutzbereich Sachlicher Schutzbereich Definition „Glauben“ BVerfGE 32, 98, 106f. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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