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RA Digital - 12/2017

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652 Öffentliches Recht

652 Öffentliches Recht RA 12/2017 Wichtig! Für die Beeinträchtigung des Schutzbereichs ist entscheidend, dass eine religiöse Verpflichtung zum Tragen des Turbans besteht und nicht nur zur Bedeckung der Haare. Das ginge nämlich auch mittels des umstrittenen Schutzhelmes. Definition „Eingriff“ Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn 261 Für einen klassischen Grundrechtseingriff fehlt es an der Finalität der staatlich verursachten Belastung, weil die Pflicht zum Tragen eines Schutzhelmes nicht darauf zielt, die Glaubensfreiheit zu beeinträchtigen. Es liegt daher nur eine mittelbarfaktische Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit vor. Der VGH geht auf den Meinungsstreit, ob die Glaubensfreiheit einem Gesetzesvorbehalt aus Art. 136 I WRV unterliegt, nicht ein. Das müsste in einer Klausur natürlich geschehen (vgl. dazu Barczak, JURA 2015, 463, 474; Neureither, JuS 2007, 20). Physische Unversehrtheit: Größere Gefahr für Ersthelfer, wenn Unfallopfer nicht behelmt ist Psychische Unversehrtheit: Traumatisierung der Ersthelfer, wenn Unfallopfer schwer verletzt ist, weil es keinen Helm trug Die körperliche Unversehrtheit des Unfallopfers selbst hat der VGH i.Ü. nicht als verfassungsimmanente Schranke anerkannt, weil eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorliegt (Rn 36 des Urteils). „Der Kläger ist nach seinen […] Bekundungen als getaufter Sikh (sog. Amritdhari) in der Öffentlichkeit nicht lediglich zur Bedeckung seines Haares - beispielsweise durch ein Tuch -, sondern gerade zum Tragen eines Turbans/Dastar verpflichtet. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung unrichtig bzw. nicht anzuerkennen sein könnte, etwa weil sie über die im Allgemeinen von Amritdhari für sich als verbindlich angesehenen Bekleidungsvorschriften (vgl. hierzu etwa en.wikipedia.org/ wiki/Dastar sowie de.wikipedia.org/wiki/Dastar) hinausginge.“ Somit ist der sachliche Schutzbereich der Glaubensfreiheit eröffnet. Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt vor, wenn eine staatliche Maßnahme das grundrechtlich geschützte Verhalten ganz oder teilweise unmöglich macht. „[…] kann ein Eingriff in den Schutzbereich auch nicht mit der Erwägung verneint werden, der Kläger werde nicht zu einer mit seinen religiösen Pflichten nicht vereinbaren Handlung (Abnehmen des Turbans) gezwungen, sondern müsse lediglich das […] Motorradfahren unterlassen. Denn das durch Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG vermittelte Recht, das gesamte Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, wird mittelbar eingeschränkt, wenn ein Sikh - anders als Nicht-Sikhs - wegen der Schutzhelmpflicht kein Motorrad fahren darf.“ Folglich liegt ein Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit vor. b) Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in die Glaubensfreiheit ist gerechtfertigt, soweit der durch die Schranken dieses Grundrechts gedeckt ist. aa) Festlegung der Schranke „Einschränkungen von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang.“ Jura Intensiv Hier kommt als kollidierendes Grundrecht die physische und psychische Unversehrtheit Dritter (Art. 2 II 1 GG) in Betracht. „Ein durch einen Helm geschützter Kraftradfahrer wird im Fall eines Unfalls regelmäßig eher als ein nicht geschützter Fahrer in der Lage sein, etwas zur Abwehr der mit einem Unfall einhergehenden Gefahren für Leib und Leben anderer Personen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) beizutragen, in dem er etwa die Fahrbahn räumt, auf die Unfallstelle aufmerksam macht, Ersthilfe leistet oder Rettungskräfte herbeiruft. Die Schutzhelmpflicht fördert aber nicht nur die physische Unversehrtheit Dritter, sondern schützt auch deren psychische Unversehrtheit, wenn man bedenkt, dass Unfallbeteiligte durch schwere Personenschäden anderer Unfallbeteiligter unabhängig von der konkreten (Mit)Schuld hieran nicht selten psychische Schäden in Gestalt von Traumatisierungen davontragen. Von diesem Risiko ist angesichts von Unfällen mit Motorradfahrern ohne Helm auszugehen, bei denen bekanntermaßen häufig schwerwiegende, zum Teil auch tödliche Kopfverletzungen die Folge sind.“ Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 12/2017 Öffentliches Recht 653 Diese Grundrechtskollision hat der Gesetzgeber mittels einfachen Gesetzes zu lösen. Denn wenn bereits bei einem Grundrecht mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt ein gesetzgeberisches Tätigwerden in Gestalt eines einfachen Gesetzes zur Einschränkung des Grundrechts erforderlich ist, dann muss dies erst recht bei einem vorbehaltlos normierten Grundrecht gelten. Als einfaches Gesetz, welches den hier vorliegenden Grundrechtskonflikt nachzeichnet und konkretisiert, kommt § 21a II 1 StVO in Betracht, der die Schutzhelmpflicht normiert. Diese Norm hat die dargestellte Kollision nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz zu lösen. Das bedeutet, sie hat die kollidierenden Grundrechte dergestalt in Ausgleich zu bringen, dass beide ein Höchstmaß an Wirksamkeit entfalten. Demnach ist eine Beschränkung der Glaubensfreiheit des S möglich zum Schutze des Grundrechts Dritter aus Art. 2 II 1 GG. bb) Schranken-Schranken Die Beschränkung der Grundrechte unterliegt ihrerseits gewissen Begrenzungen, um eine Aushöhlung der Grundrechte zu verhindern (sog. Schranken-Schranken). (1) Verfassungsmäßigkeit des § 21a II 1 StVO § 21a II 1 StVO begegnet allein hinsichtlich der Wesentlichkeitstheorie verfassungsrechtlichen Bedenken. Möglicherweise hätte der Parlamentsgesetzgeber selbst im Detail die Schutzhelmpflicht regeln müssen. „Im typischen Anwendungsfall dieser Vorschrift betrifft die Regelung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit der von der Helmpflicht erfassten Kraftradfahrer. Dass die Schutzhelmpflicht in sehr seltenen Ausnahmefällen […] mittelbar auch deren Glaubensfreiheit tangieren kann, wenn das Tragen eines Schutzhelms der Erfüllung religiöser Bekleidungsvorschriften entgegen steht, macht die Schutzhelmpflicht nicht bereits zu einer Regelung mit erheblicher Bedeutung für die Verwirklichung der Glaubensfreiheit. Mithin ist § 21a II 1 StVO verfassungsgemäß. Jura Intensiv (2) Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts Schließlich muss der konkrete Einzelakt verfassungskonform sein. Unter Berücksichtigung des von S behaupteten gebundenen Anspruchs auf Befreiung von der Schutzhelmpflicht bedeutet dies, dass ein Verfassungsverstoß nur vorliegt, wenn das beeinträchtigte Grundrecht des S aus Art. 4 I, II GG im Verhältnis zum kollidierenden Grundrecht aus Art. 2 II 1 GG derart überwiegt, dass die Behörde zwingend der Glaubensfreiheit den Vorrang hätte einräumen müssen. „Gegen ein generelles Überwiegen der Interessen des Klägers spricht vor allem die Hochrangigkeit der […] geschützten Güter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, aufgrund der es verfassungsrechtlich unbedenklich erscheint, selbst zur Abwehr verhältnismäßig abstrakter Gefahren Schutzvorkehrungen […] zu ergreifen. Diesen hochrangigen Gütern steht auf Seite des Klägers zwar ebenfalls ein mit hohem Rang […] ausgestattetes Grundrecht gegenüber. Bei dessen Gewichtung ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Schutzhelmpflicht die Glaubensfreiheit des Klägers nur […] wenig intensiv tangiert, weil der Kläger nicht zur Vornahme von mit seinen BVerfGE 83, 130, 142; 108, 282, 297 BVerfGE 93, 1, 21 Prüfungsreihenfolge bei verfassungsimmanenten Schranken: 1. Kollidierendes GR oder RG von Verfassungsrang 2. Konkretisierendes einfaches Gesetz 3. Prinzip der praktischen Konkordanz Muss Schutzhelmpflicht detailliert in einem Parlamentsgesetz geregelt werden? Nein, weil i.d.R. nur Art. 2 I GG betroffen ist. Diese Ausführungen knüpfen inhaltlich an die fehlende Finalität des Eingriffs an. Vgl. auch BVerfG, NVwZ 2017, 227 Die Verhältnismäßigkeit des § 21a II 1 StVO ist - gerade wegen - der Ausnahmevorschrift des § 46 I 1 Nr. 5b StVO unproblematisch. Wichtig! Keine „normale“ Verhältnismäßigkeitsprüfung, weil es nicht um die Rechtmäßigkeit eines belastenden Hoheitsakts geht, sondern um die Pflicht der Behörde zum Erlass eines begünstigenden VA. Argumente gegen eine Ermessensreduzierung auf Null: • Hochrangigkeit des kollidierenden Art. 2 II 1 GG • Schutzhelmpflicht tangiert Glaubensfreiheit nur geringfügig • K ist nicht zwingend auf sein Motorrad angewiesen © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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