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RA 01/2016 - Entscheidung des Monats

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46 Strafrecht

46 Strafrecht RA 01/2016 LÖSUNG Durch die Operation könnte A sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I StGB zum Nachteil der N strafbar gemacht haben. I. Tatbestand BGH, Urteil vom 05.07.2007, 4 StR 549/06, NStZ-RR 2007, 340, 341 „Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs […] stellt jeder ärztliche Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eine tatbestandsmäßige Körperverletzung dar. Vom Vorliegen des objektiven Tatbestandes sowie des erforderlichen Vorsatzes ist dementsprechend ohne weiteres auszugehen.“ II. Rechtswidrigkeit A müsste auch rechtswidrig gehandelt haben. Tatsächlich durchgeführte Operation ist nicht von der Einwilligungserklärung des Opfers gedeckt. 1. Rechtfertigende ausdrückliche Einwilligung der N A könnte durch eine ausdrückliche Einwilligung der N gerechtfertigt sein. „Eine ausdrückliche Einwilligung in den erfolgten Eingriff, welche die Rechtswidrigkeit entfallen ließe, ist nicht anzunehmen. Soweit die Verteidigung sich insoweit auf die von der Nebenklägerin unterzeichnete Einwilligungserklärung, namentlich auf den Passus mit ‚[...] sich erst während des Eingriffs als medizinisch notwendig erweisenden Änderungen oder Erweiterungen [...] bin ich ebenfalls einverstanden‘ berufen hat, ist nicht davon auszugehen, dass dieser den tatsächlich erfolgten Eingriff abdeckt. Der tatsächlich vorgenommenen Operation lag […] ein gänzlich anderer Befund zugrunde, als der geplanten Maßnahme. Infolge dessen erforderte der Eingriff von Vornherein deutlich weiter gehende Maßnahmen als diejenigen, die im Rahmen des geplanten Eingriffs grundsätzlich vorgesehen waren: [Insbesondere] erforderte die vom Angeklagten zutreffend als indiziert beurteilte histologische Untersuchung der von ihm rechtsseitig ertasteten Resistenz in jedem Falle eine vollständige […] Entfernung des Gewebes (mit zwingend anschließendem stationärem Aufenthalt), wohingegen die geplante Behandlung des zystischen Befundes linksseitig grundsätzlich lediglich eine (ambulante) Eröffnung des Gewebes mit anschließender Nahtversorgung erfordert hätte. Angesichts dessen kann nicht angenommen werden, dass die von der Nebenklägerin abgegebene Einwilligungserklärung den tatsächlich erfolgten Eingriff abdeckt, zumal und maßgeblich weil die erfolgte Operation gerade an gänzlich anderer Stelle - wenn auch innerhalb desselben Organs - durchgeführt worden ist.“ Jura Intensiv Die durchgeführte Operation ist also von der Einwilligungserklärung der N nicht gedeckt und A deshalb nicht durch eine ausdrückliche Einwilligung gerechtfertigt. 2. Rechtfertigende mutmaßliche Einwilligung der N A könnte jedoch durch eine mutmaßliche Einwilligung der N gerechtfertigt sein. Mutmaßliche Einwilligung nur bei fehlender Möglichkeit der Einholung einer ausdrücklichen Einwilligung „Der Eingriff ist auch nicht im Wege der mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt. Das Eingreifen der mutmaßlichen Einwilligung setzt voraus, dass eine Einwilligung des Patienten nicht eingeholt werden kann. Für den hier in Rede stehenden Fall, dass der Arzt intraoperativ vor der Frage steht, ob er eine mit Zustimmung des Patienten begonnene Operation

RA 01/2016 Strafrecht 47 aufgrund von veränderten Umständen abbrechen oder fortsetzen soll, kommt nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten dann nicht in Betracht, wenn die Verzögerung des Eingriffs, die durch die Aufklärung und Einholung der Einwilligungserklärung entstünde, nicht mit akuter Lebensgefahr oder erheblichen Risiken für die Gesundheit des Patienten verbunden ist. Eine Operationserweiterung ohne Zustimmung des Patienten allein unter dem Gesichtspunkt, dass eine weitere Operation - sollte sie vom Patienten gewünscht werden - mit den (üblichen) körperlichen oder seelischen Belastungen verbunden wäre, ist dementsprechend in aller Regel unzulässig. Anderenfalls liefe das Selbstbestimmungsrecht des Patienten weitgehend leer. Nach diesen Maßgaben scheidet die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung im vorliegenden Fall aus. Denn der vom Angeklagten vorgenommene Eingriff war […] gerade nicht in dem Sinne eilbedürftig, dass eine Verzögerung weitere Risiken barg, als diejenigen, die mit einer Folgeoperation zwangsläufig verbunden sind.“ A ist somit auch nicht durch mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt. 3. Rechtfertigende hypothetische Einwilligung der N Denkbar wäre schließlich eine Rechtfertigung des A durch eine hypothetische Einwilligung der N. „Schließlich ist auch nicht von einer Rechtfertigung des Eingriffs unter dem Gesichtspunkt der hypothetischen Einwilligung auszugehen. Nach Auffassung des Gerichts ist der im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht entwickelten Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung für den Bereich des Strafrechts bereits die Anerkennung zu versagen. Dabei wird nicht verkannt, dass der 1. und 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs von einer Anwendbarkeit der Rechtsfigur auch bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes ausgehen. Dem ist jedoch aus triftigen Gründen nicht zu folgen. Jura Intensiv Die bei der hypothetischen Einwilligung aufgeworfene Frage, ob der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den vorgenommenen ärztlichen Eingriff eingewilligt hätte, begegnet bereits methodischen Bedenken. Denn die Frage, wie sich ein Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung entschieden hätte, kann mangels Kenntnis entsprechender Naturgesetze prinzipiell kaum sinnvoll beantwortet werden, zumal unter Berücksichtigung des Umstandes, dass nicht auf die Entscheidung eines vernünftigen Patienten, sondern auf diejenige des höchstpersönlich betroffenen Patienten abzustellen sein soll. Angesichts der hiermit verbundenen, kaum zu überwindenden praktischen Schwierigkeiten bei der Ermittlung des fiktiven Patientenwillens wäre aufgrund des im Strafrecht geltenden in-dubio-pro-reo-Grundsatzes ein angemessener Strafrechtsschutz des Patienten nicht mehr gewährleistet. […] Ferner spricht aus Sicht des Gerichts maßgeblich gegen die Anerkennung der hypothetischen Einwilligung, dass durch sie das - von den §§ 223 ff. StGB jedenfalls auch - geschützte Selbstbestimmungsrecht BGH, Urteil vom 04.10.1999, 5 StR 712/98, NJW 2000, 885 Hypothetische Einwilligung ist als Rechtfertigungsgrund abzulehnen. Zulässigkeit der hypothetischen Einwilligung: BGH, Urteil vom 05.07.2007, 4 StR 549/06, NStZ-RR 2007, 340; Urteil vom 23.10.2007, 1 StR 238/07, NStZ 2008, 150; a.A.: Sowada, NStZ 2012, 1; Rönnau, JuS 2014, 882 Hypothetische Einwilligung führt zu unüberwindbaren praktischen Schwierigkeiten. Hypothetische Einwilligung würde das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu sehr aushöhlen.

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