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RA 02/2022 - Entscheidung des Monats

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Der Beschluss des BVerfG hat Äußerungen über den bekannten Sänger Xavier Naidoo zum Gegenstand und zeigt exemplarisch, wie schwer es selbst für Obergerichte ist, Aussagen als Meinungskundgabe einzustufen und deren Inhalt richtig zu erfassen.

86 Öffentliches Recht

86 Öffentliches Recht RA 02/2022 Maßgeblich sei, ob die in den Werturteilen enthaltenen Tatsachenbehauptungen zuträfen oder ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellt seien. Die objektive Richtigkeit des tatsächlichen Äußerungsgehalts ihrer Aussage sei aber nicht hinreichend belegt. B rügt eine Verletzung ihres Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG. Obersatz Persönlicher und sachlicher Schutzbereich Definition „Meinung“ Schildheuer, JURA INTENSIV, Grundrechte, Rn 318 f. Definition „Eingriff“ Schildheuer, JURA INTENSIV, Grundrechte, Rn 103 Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Zivilrecht LÖSUNG B ist in ihrem Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG verletzt, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist. I. Eingriff in den Schutzbereich Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 1. Hs. GG vorliegen. Art. 5 I 1 1. Hs. GG schützt für jedermann das Recht auf freie Meinungsäußerung. Unter Meinung sind alle Werturteile zu verstehen, also jede Äußerung, die durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung geprägt ist. B verwendete in den ersten beiden Sätzen ihrer streitgegenständlichen Äußerungen wertungsoffene Begriffe („Souveränist, mit einem Bein bei den Reichsbürgern“; „Antisemit“), brachte also Werturteile über den K zum Ausdruck, sodass es sich um Meinungsäußerungen handelt. Der dritte Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar“ steht im untrennbaren Zusammenhang mit der Meinungsäußerung „Er ist Antisemit“ und ist somit ebenfalls als Werturteil zu qualifizieren. Folglich ist der sachliche Schutzbereich des Art. 5 I 1 1. Hs. GG eröffnet. Unter einem Eingriff ist jedes staatliche Verhalten zu verstehen, das den Schutzbereich eines Grundrechts verkürzt, d.h. die Grundrechtsausübung ganz oder teilweise unmöglich macht. Da es sich vorliegend um einen Zivilrechtsstreit handelt und die Grundrechte zwischen Privatpersonen keine unmittelbare Wirkung entfalten (vgl. Art. 1 III GG), ist fraglich, ob die angegriffenen Zivilurteile geeignete Anknüpfungspunkte für einen Grundrechtseingriff sind. „[14] Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte. Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch dem Einfluss der Grundrechte auf die Vorschriften des Zivilrechts Rechnung zu tragen. Handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei […] das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. […]“ Demnach sind die Zivilgerichte bei ihrer Rechtsfindung an die Meinungsfreiheit gebunden. Indem sie B die Verbreitung der streitgegenständlichen Äußerungen untersagten, verkürzten sie den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Folglich liegt ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG vor. Obersatz Definition „allgemeine Gesetze“ Schildheuer, JURA INTENSIV, Grundrechte, Rn 369 II. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er durch die Schranken des Grundrechts gedeckt ist. 1. Festlegung der Schranke Die Grundrechte aus Art. 5 I GG finden ihre Schranke in dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II GG. Hier könnte die Schranke der allgemeinen Gesetze einschlägig sein. Allgemeine Gesetze sind solche Bestimmungen, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 02/2022 Öffentliches Recht 87 dem Schutz eines höherrangigen Rechtsguts dienen, also dem Schutz eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat. Dabei hat das einschränkende Gesetz seinerseits die besondere Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG zu beachten, das für einen demokratischen Rechtsstaat geradezu konstituierend ist und somit eines der vornehmsten und wichtigsten Grundrechte darstellt. Das begrenzende Gesetz wird also wiederum begrenzt durch die hohe Wertigkeit der Meinungsfreiheit (sog. Wechselwirkungslehre). Die zivilgerichtlichen Verurteilungen stützen sich auf § 1004 I BGB und § 823 II BGB i.V.m. § 186 StGB. Diese Vorschriften sind meinungsneutral und schützen mit der persönlichen Ehre ein durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut, das sich gegen die Meinungsfreiheit durchsetzen kann, sodass es sich um allgemeine Gesetze i.S.v. Art. 5 II GG handelt. Wechselwirkungslehre sollte hier schon erwähnt werden, hat eigentlichen Anwendungsbereich aber erst in der Angemessenheitsprüfung. 2. Schranken-Schranken a) Verfassungsmäßigkeit von § 1004 I BGB und § 823 II BGB i.V.m. § 186 StGB Die Normen sind formell und materiell verfassungsgemäß, insbesondere sind sie einer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung im Einzelfall zugänglich. Unproblematisch, daher nur Ergebnissatz. Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften gar nicht erst geprüft. b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts Die Anwendung der Normen durch die Zivilgerichte muss den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, d.h. verhältnismäßig sein. Fraglich ist allein die Angemessenheit der Verurteilung im Lichte der oben erwähnten Wechselwirkungslehre. „[17] Weichenstellend für die Prüfung einer Grundrechtsverletzung ist die Erfassung des Inhalts der Aussage, insbesondere die Klärung, in welcher Hinsicht sie ihrem objektiven Sinn nach das Persönlichkeitsrecht des Klägers des Ausgangsverfahrens beeinträchtigt. Maßgeblich für die Deutung ist […] der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat, […] [20] […] ist die Äußerung der Beschwerdeführerin „Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen … strukturell nachweisbar.“ […] unzweideutig dahingehend zu verstehen, die Beschwerdeführerin halte den Kläger des Ausgangsverfahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Die Rezipienten in der konkreten Veranstaltung durften die Äußerung der Beschwerdeführerin dahingehend verstehen, sie halte die vom Kläger des Ausgangsverfahrens in seinen Werken transportierten Ansichten für antisemitisch, also feindlich gegenüber Juden eingestellt; für diese Bewertung bestünden […] entsprechende Anknüpfungspunkte. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts bedurfte es daher mangels Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der in der Entscheidung vom 25. Oktober 2005 - 1 BvR 1696/98 -, […] vom Bundesverfassungsgericht niedergelegten Grundsätze zur Auslegung mehrdeutiger Meinungsäußerungen. […] Kernvoraussetzung für eine fehlerfreie Abwägung: Richtige Erfassung des Inhalts der Meinungsäußerung Subsumtion: OLG hat die Äußerungen falsch verstanden, ist von einer Mehrdeutigkeit ausgegangen, die gar nicht vorliegt. Deshalb auch keine Heranziehung der sog. Stolpe- Respr. des BVerfG. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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