32 Öffentliches Recht RA 01/2016 LEITSÄTZE 1. § 43 Abs. 1 GO NRW stattet die Ratsmitglieder mit einem freien Mandat aus. Sie haben dabei insbesondere auch das Recht zur – ggf. gegenüber der Gemeinde und ihrer Politik kritischen – freien Meinungsäußerung, das nicht nur statusrechtlich, sondern – jedenfalls außerhalb von Ratssitzungen – zudem über Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG grundrechtlich geschützt ist. 2. Hinter der Treuepflicht des § 32 Abs. 1 Satz 1 GO NRW steht der Gedanke, die Gemeindeverwaltung von allen Einflüssen freizuhalten, die eine objektive, unparteiische und einwandfreie Führung der Geschäfte gefährden könnten. Ratsmitglieder müssen alles unterlassen, was dem Wohl der Gemeinde und der Einwohnerschaft zuwiderläuft. 3. Die verfassungsrechtliche Ausstrahlungswirkung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG führt dazu, dass die Treuepflicht des § 32 Abs. 1 Satz 1 GO NRW einem Ratsmitglied grund sätzlich nicht verbietet, sich außerhalb von Ratssitzungen gegenüber der Gemeindeöffentlichkeit oder einzelnen Bürgern zu Vorgängen der Gemeindepolitik kritisch zu äußern. Soweit ein Ratsmitglied derartige Äußerungen tätigt, muss es dies allerdings nach pflichtgemäßer Prüfung insbesondere wahrheitsgemäß und – soweit geboten – vollständig tun. Die Äußerungen dürfen auch keinen diffamierenden Inhalt haben. 4. Ein Gemeinderat kann eine Befugnis für eine Missbilligung und Rüge des Verhaltens seiner Mitglieder nicht allgemein aus §§ 40, 41 Abs. 1 GO NRW in Verbindung mit der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 78 LVerf NRW ableiten. Diese Normen ermächtigen den Rat lediglich dazu, Verstöße gegen organschaftliche Pflichten seiner Mitglieder festzustellen. 5. Ein Gemeinderat hat nach nordrhein-westfälischem Kommunalrecht nicht die Befugnis, einem seiner Mitglieder den Ausschluss aus dem Rat anzudrohen. Problem: Anwendbarkeit der Grundrechte in einem Kommunalverfassungsstreit Einordnung: Kommunalrecht OVG Münster, Urteil vom 15.09.2015 15 A 1961/13 EINLEITUNG Das OVG Münster hatte sich eigentlich „nur“ mit der Zulässigkeit eines Ratsbeschlusses zu befassen, in dem das Verhalten eines Ratsmitglieds missbilligt und gerügt wurde. Dabei hat sich das Gericht jedoch auch zur Anwendung der Grundrechte im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits geäußert. Der „Rat“ heißt in anderen Bundesländern im Übrigen „Gemeinderat“ oder „Gemeindevertretung“. SACHVERHALT (VEREINFACHT DARGESTELLT) Der Kläger (K) ist Mitglied des Rates der Gemeinde T. Gegen einen Bebauungsplan der T klagt einer ihrer Einwohner, Herr X. Dieser wandte sich an K mit der Frage, ob der Bebauungsplan formell ordnungsgemäß beschlossen worden sei. K bezweifelte dies und suggerierte, der Rat werde sich unabhängig von der objektiven Sachlage nicht an Recht und Gesetz halten, weil er den in Rede stehenden Bebauungsplan in jedem Fall halten wolle. Daraufhin fasst der Rat einen Beschluss, mit dem er das Verhalten des K als Verstoß gegen seine Treuepflichten missbilligt sowie rügt und sich im Wiederholungsfalle einen Ausschluss des K aus dem Rat vorbehält. Mit seiner Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht möchte K festgestellt wissen, dass er nicht gegen seine Pflichten als Ratsmitglied verstoßen hat und der Ratsbeschluss rechtswidrig ist. LÖSUNG Die Klage hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist. Jura Intensiv A. Zulässigkeit der Klage I. Verwaltungsrechtsweg Mangels auf- und abdrängender Sonderzuweisungen richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 I 1 VwGO. Die danach erforderliche öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt vor, wenn die streitentscheidende Norm eine solche des öffentlichen Rechts ist, d.h. ausschließlich einen Hoheitsträger berechtigt oder verpflichtet (sog. modifizierte Subjektstheorie bzw. Sonderrechtslehre). Streitentscheidend sind §§ 32, 43 GO NRW, also Normen des öffentlichen Rechts, sodass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt. Diese ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art, sodass für die Klage des K der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. II. Statthafte Klageart Die statthafte Klageart richtet sich nach dem klägerischen Begehren, § 88 VwGO. K begehrt die Feststellung, dass er nicht gegen seine Pflichten als Ratsmitglied verstoßen hat und der Beschluss des Rates rechtswidrig ist. Diesem Begehren könnte die Feststellungsklage entsprechen. Dann muss K Inhaltsverzeichnis
RA 01/2016 Öffentliches Recht 33 gem. § 43 I VwGO die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehren. Ein Rechtsverhältnis sind die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund öffentlich-rechtlicher Normen ergebenden Rechtsbeziehungen zwischen Personen oder zwischen einer Person und einer Sache. Der konkrete Sachverhalt besteht einerseits in der Äußerung des K gegenüber Herrn X sowie andererseits in dem Beschluss des Rates. Die zugrunde liegenden öffentlich-rechtlichen Normen sind diejenigen der GO NRW. Die sich daraus ergebenden umstrittenen Rechtsbeziehungen betreffen zum einen die Frage, ob K durch die Äußerung gegenüber Herrn X seine Pflichten als Ratsmitglied verletzt hat. Zum anderen will K festgestellt wissen, dass der Rat nicht berechtigt war, sein Verhalten zu rügen, zu missbilligen und sich einen Ratsausschluss vorzubehalten. Demnach geht es ihm in beiden Konstellationen um die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses (sog. negative Feststellungsklage). Die prozessuale Situation weist allerdings die Besonderheit auf, dass K ein kommunales Mandat innehat und sich seine Klage gegen Maßnahmen des Organs richtet, dem er selbst angehört. Folglich handelt es sich um einen sog. Kommunalverfassungsstreit, der sich dadurch auszeichnet, dass Organe oder Organteile einer kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft um die ihnen zustehenden Kompetenzen streiten. Auf diese Innenrechtsstreitigkeiten (hier in Gestalt eines sog. Intraorganstreits) ist die VwGO zwar nicht unmittelbar zugeschnitten. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die ausdrücklich normierten Klagearten, namentlich die Feststellungs- und die Leistungsklage, in ihren Voraussetzungen so angepasst werden können, dass sie auch Innenrechtsstreitigkeiten erfassen. Folglich ist die Feststellungsklage die statthafte Klageart. III. Feststellungsinteresse Gem. § 43 I VwGO muss der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung haben. Ein berechtigtes Interesse ist jedes schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Bzgl. des Ratsbeschlusses weist der Kläger das sowohl rechtliche als auch ideelle Interesse auf, den dadurch gesetzten Anschein aus der Welt zu schaffen, er habe durch seine Äußerung gegenüber T seine Treuepflichten als Ratsmitglied verletzt. Darüber hinaus hat K ein berechtigtes rechtliches Interesse daran, generell die Grenzen und Reichweite seiner Rechte als Ratsmitglied aus § 43 I GO NRW klären zu lassen. Mithin weist er das erforderliche Feststellungsinteresse auf. Jura Intensiv IV. Klagebefugnis Fraglich ist, ob K klagebefugt sein muss. Die analoge Anwendung des § 42 II VwGO im Rahmen der Feststellungsklage ist zwar durchaus umstritten, jedoch kommt es auf diesen Meinungsstreit nicht an, wenn K klagebefugt ist. Da der Kläger bei einem Kommunalverfassungsstreit nicht als natürliche Person, sondern in seiner öffentlichen Funktion klagt, verlangt dies eine mögliche Verletzung der ihm als kommunales Organ oder Organteil zustehenden Rechte (sog. Organrechte bzw. organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte bzw. wehrfähige Innenrechtsposition). „[46] Die im Rahmen von § 42 Abs. 2 VwGO analog wehrfähige (Innen-) Rechtsposition des Klägers folgt im Anschluss daran aus seiner Stellung als Mitglied des Beklagten und den damit gemäß § 43 Abs. 1 GO NRW verbundenen Statusrechten - hier in Verbindung mit seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG. Hätte K die Feststellung begehrt, dass er zu seiner Äußerung gegenüber Herrn X berechtigt war, läge eine positive Feststellungsklage vor. Da der Kommunalverfassungsstreit (KVS) allgemein anerkannt ist, erübrigen sich langatmige Ausführungen zu seiner dogmatischen Herleitung. Es muss daher insbesondere nicht zwingend darauf eingegangen werden, dass es sich nicht um eine Klageart sui generis handelt. Wie schon im Rahmen der statthaften Klageart muss ganz genau zwischen den beiden Begehren des K differenziert werden. Da beim KVS in besonderem Maße die Gefahr besteht, dass der Kläger sich zum „Hüter des Allgemeinwohls“ aufschwingt, ist es ganz h.M., dass § 42 II VwGO in diesem Fall auch i.R. einer Feststellungsklage anzuwenden ist (Hufen, VerwProzessR, § 18 Rn 17). § 43 I GO NRW normiert das sog. freie Mandat der Ratsmitglieder. Inhaltsverzeichnis
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