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RA Digital - 01/2020

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30 Öffentliches Recht

30 Öffentliches Recht RA 01/2020 Zum Prüfungsaufbau: Da ein Zivilrechtsstreit zugrunde liegt, könnte bereits hier auf die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte / EU- Grundrechte eingegangen werden, was vom BVerfG aber erst im Rahmen der Begründetheit angesprochen wird (s. dazu die Ausführungen im „Fazit“). Beachte: „Selbst, gegenwärtig und unmittelbar“ sind zusätzliche Voraussetzungen. Problem 1: Grundrechte des GG anwendbar bei vollvereinheitlichtem EU-Recht? Grds. nein wegen Anwendungsvorrang des EU-Rechts Anwendungsvorrang gilt für Prüfung der Gültigkeit von EU-Recht ebenso wie für Prüfung von Vollzugsakten des EU-Rechts (vgl. BVerfGE 73, 339, 387; 102, 147, 162 ff.; 129, 78, 103) Begründung: Einheitlich geltendes EU-Recht verlangt auch einheitlichen Grundrechtsschutz Anwendung nationaler Grundrechte führt zu unterschiedlichem Grundrechtsschutz, da es in der EU keine deckungsgleichen Grundrechtsstandards - auch nicht mittels der EMRK - gibt. Ausnahme: Kein hinreichender Grundrechtsschutz auf EU-Ebene, sog. Solange-Respr. (vgl. BVerfGE 73, 339, 376; 129, 186, 199) IV. Beschwerdegegenstand Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG muss sich die Verfassungsbeschwerde gegen einen Akt öffentlicher Gewalt richten. Darunter ist jedes Verhalten der Legislative, Exekutive und Judikative zu verstehen, vgl. §§ 93 I, III, 95 II, III BVerfGG. B wehrt sich gegen die fachgerichtlichen Entscheidungen und damit gegen Akte der Judikative (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde), sodass ein tauglicher Beschwerdegegenstand vorliegt. V. Beschwerdebefugnis Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG muss B beschwerdebefugt sein. Das bedeutet, nach ihrem substanziierten Vorbringen muss die Möglichkeit bestehen, dass sie durch den angegriffenen Beschwerdegegenstand in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. Darüber hinaus muss sie auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. B rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus dem Grundgesetz sowie aus der GRCh. Da es sich bei dem streitentscheidenden Fachrecht um unionsweit abschließend vereinheitlichtes EU-Recht handelt, ist fraglich, ob sich B überhaupt auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen kann. a) Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes „[42] Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich; das Unionsrecht hat hier gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes Anwendungsvorrang. […] [43] Dass in vollvereinheitlichten Materien des Unionsrechts die deutschen Grundrechte nicht anwendbar sind, entspricht für die Gültigkeitsprüfung dieser Normen ständiger Rechtsprechung. Nichts anderes gilt aber für deren konkretisierende Anwendung. [44] Die Anwendung der Unionsgrundrechte ist hier Konsequenz der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Wenn die Union im Rahmen dieser Befugnisse Regelungen schafft, die in der gesamten Union gelten und einheitlich angewendet werden sollen, muss auch der bei Anwendung dieser Regelungen zu gewährleistende Grundrechtsschutz einheitlich sein. Diesen Grundrechtsschutz gewährleistet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die deutschen Grundrechte sind in diesen Fällen nicht anwendbar, weil dies das Ziel der Rechtsvereinheitlichung konterkarieren würde. […] Im Bereich des vollständig vereinheitlichten Unionsrechts […] verlangt das Unionsrecht gerade die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung. Das steht einer Heranziehung unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Grundrechtsstandards von vornherein entgegen, weil dies zur divergierenden Anwendung des vereinheitlichten Rechts führen würde. Derzeit ist nicht davon auszugehen, dass über das zusammenführende, aber nicht auf Vereinheitlichung zielende gemeinsame Fundament in der Europäischen Menschenrechtskonvention hinaus deckungsgleiche Grundrechtsstandards bestehen. […] Jura Intensiv [47] Die Nichtanwendung der deutschen Grundrechte als Kontrollmaßstab beruht allein auf der Anerkennung eines Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und lässt die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 01/2020 Öffentliches Recht 31 als solche unberührt. Sie bleiben dahinterliegend ruhend in Kraft. Dementsprechend erkennt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung einen die Überprüfung an den Grundrechten des Grundgesetzes ausschließenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur unter dem Vorbehalt an, dass der Grundrechtsschutz durch die stattdessen zur Anwendung kommenden Grundrechte der Union hinreichend wirksam ist. […] [48] Nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts […] ist […] davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind. Den Grundrechten des Grundgesetzes kommt insoweit nur eine Reservefunktion zu. […]“ Aktuell gibt es auf EU-Ebene einen hinreichend wirksamen Grundrechtsschutz (vgl. BVerfGE 73, 339, 387; 129, 186, 199). Demnach kann sich B wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts nicht auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen. b) Anwendbarkeit der Grundrechte der GRCh Möglicherweise kann B aber im Rahmen der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihrer Grundrechte aus der GRCh geltend machen. „[51] In seiner bisherigen Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht eine Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte nicht ausdrücklich in Erwägung gezogen. Soweit es in Anerkennung eines Vorrangs des Unionsrechts die grundgesetzlichen Grundrechte nicht angewendet hat, hat es vielmehr auf eine Grundrechtsprüfung ganz verzichtet und die Grundrechtskontrolle den Fachgerichten in Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof überlassen. Diese Rechtsprechung war auf Fallkonstellationen bezogen, in denen – mittelbar oder unmittelbar – die Gültigkeit von Unionsrecht selbst in Frage stand. […] Da die Verwerfung oder Ungültigerklärung von Unionsrecht allein dem Europäischen Gerichtshof vorbehalten ist, hat das Bundesverfassungsgericht dort auf eine vorherige eigene Grundrechtsprüfung ganz verzichtet. […] [52] Vorliegend stehen jedoch nicht Gültigkeit oder Wirksamkeit von Unionsrecht in Frage, sondern die richtige Anwendung vollvereinheitlichten Unionsrechts im Lichte der für den Einzelfall konkretisierungsbedürftigen Grundrechte der Charta. […] Jedenfalls in solchen Fällen kann sich das Bundesverfassungsgericht nicht aus der Grundrechtsprüfung zurückziehen, sondern gehört es zu seinen Aufgaben, Grundrechtsschutz am Maßstab der Unionsgrundrechte zu gewährleisten. Jura Intensiv [53] Die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts für die Unionsgrundrechte folgt hier aus Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit den grundgesetzlichen Vorschriften über die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Grundrechtsschutzes. Das Bundesverfassungsgericht nimmt entsprechend seiner Aufgabe, gegenüber der deutschen Staatsgewalt umfassend Grundrechtsschutz zu gewähren, im Bereich der Anwendung vollständig vereinheitlichten Unionsrechts gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG durch eine Prüfung der Rechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG seine Integrationsverantwortung wahr. Problem 2: Prüfung der GRCh im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde? Bisherige Respr. betraf nur Prüfung der Gültigkeit von EU-Recht. Dafür ist ausschließlich der EuGH zuständig (vgl. BVerfGE 73, 339, 374 ff.; 118, 79, 95 f.; 129, 186, 198 f.). Hier geht es aber um die grundrechtskonforme Anwendung des EU-Rechts. Das prüft das BVerfG am Maßstab der EU-Grundrechte. Dogmatischer Ansatzpunkt: Art. 23 I GG (Integrationsverantwortung) © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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