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RA Digital - 01/2022

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

32 Öffentliches Recht

32 Öffentliches Recht RA 01/2022 Problem: Musste Bundesrat zustimmen? Hier verweist das BVerfG auf seinen am gleichen Tag ergangenen Beschluss zu den auf § 28b III IfSG beruhenden Schulschließungen (1 BvR 971/21 u.a., Rn 88 ff. – Bundesnotbremse II, in diesem Heft der RA abgedruckt) bb) Gesetzgebungsverfahren Hinsichtlich des Gesetzgebungsverfahrens ist nur fraglich, ob § 28b I 1 Nr. 1 IfSG der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, um wirksam zustande zu kommen. „[133] […] Zwar enthielten § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 […] IfSG selbst keine möglicherweise zustimmungspflichtigen Inhalte. Ob aber ein Gesetz als Ganzes zustimmungsbedürftig ist, wenn es auch nur eine Vorschrift enthält, die die Zustimmungsbedürftigkeit anordnet (sog. Einheitsthese), bedarf keiner Entscheidung, da das Gesetz insgesamt weder nach Art. 104a Abs. 4 GG noch aufgrund anderer Tatbestände zustimmungsbedürftig gewesen ist.“ Rechtliche Bedenken an der Ausfertigung und Verkündung (Art. 58, 82 I 1 GG) bestehen nicht, sodass § 28b I 1 Nr. 1 IfSG formell verfassungskonform war. Self executing law • Legislative übernimmt teilweise Aufgaben der Exekutive • das bedarf eines sachlichen Grundes Kein Eingriff in den Kernbereich der Exekutive (der nicht zu rechtfertigen wäre) Sachlicher Grund für Erlass eines selbstvollziehenden Gesetzes: Uneinheitliches Handeln der Länder b) Materielle Verfassungsmäßigkeit des § 28b I 1 Nr. 1 IfSG aa) Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung Da § 28b I 1 Nr. 1 IfSG unmittelbar geltende Pflichten normierte (selbstvollziehendes Gesetz), könnte ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung vorliegen. „[142] […] Entscheidungen aufgrund eines schlicht subsumierenden Normenvollzugs sind funktional typischerweise der Verwaltung vorbehalten, die für diese Aufgabe den erforderlichen Verwaltungsapparat und Sachverstand besitzt. Zieht das Parlament solche Verwaltungstätigkeit an sich, müssen hierfür im Einzelfall hinreichende sachliche Gründe bestehen. […] [144] Die Ausgestaltung der Maßnahmen in § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG bewirkten zwar eine gewisse Gewichtsverlagerung zwischen Legislative und Exekutive. Ein Eingriff in den Kernbereich der der Exekutive vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben war damit aber offensichtlich nicht verbunden. Bei den in § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG als selbstvollziehend angeordneten Beschränkungen handelte es sich um abstrakt-generelle Regelungen, die personal nahezu jede sich im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhaltende Person und sachlich eine Vielzahl von Fällen erfassten. Die Beschränkungen bedurften zwar keines Verwaltungsvollzugs, um im Einzelfall Wirkung zu entfalten. Der Verwaltung wurde aber dadurch kein ihr zugewiesener Sachbereich als solcher entzogen. Die Verwaltungsbehörden waren weiterhin für Auslegung und Subsumtion der Tatbestände einschließlich der Ausnahmeregelungen und Durchführungsvorgaben zuständig. […] Jura Intensiv [145] Für die Ausgestaltung der angegriffenen Beschränkungen als selbstvollziehende Regelungen bestanden auch hinreichende sachliche Gründe. […] Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der angegriffenen Regelungen konnte der Bundesgesetzgeber von einem nicht lediglich regional begrenzten Infektionsgeschehen ausgehen, das durch das Auftreten neuer, gefährlicherer Virusvarianten, steigende Infektionsraten sowie steigende Belegungsraten der Intensivstationen mit COVID-19-Patienten gekennzeichnet war. Die weitere Annahme des Gesetzgebers, es bestehe eine Schutzlücke, die aus einer nicht bundesweit einheitlich erfolgenden Auslegung Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 01/2022 Öffentliches Recht 33 und Umsetzung der in der Konferenz der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten getroffenen Beschlüsse resultiere und die bundeseinheitliche Regelung erfordere, lag innerhalb des ihm zu den sachlichen Gründen zustehenden Beurteilungs- und Einschätzungsspielraums. […]“ Möglicherweise liegt ein Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz aber durch eine unzulässige Verkürzung der Rechtsschutzmöglichkeiten vor. „[147] […] Indem Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG Entscheidungen im Einzelfall in der Regel der Exekutive vorbehält, gewährleistet er zwar auch, dass sich Betroffene gegen den Eingriff des Staates in grundrechtlich geschützte Interessen effektiv zur Wehr setzen und damit ihre Grundrechte durchsetzen können. Hingegen werden durch die Wahl eines Gesetzes statt einer – ebenfalls möglichen – Verwaltungsentscheidung als Handlungsform für den Einzelfall die Möglichkeiten der gerichtlichen Kontrolle regelmäßig eingeschränkt sein. […] [149] […] Fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen die Beschränkungen aus § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG war für den Einzelnen nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Feststellungsklage (§ 43 VwGO) statthaft, wenn die Feststellung begehrt wird, dass wegen der Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm kein Rechtsverhältnis zu anderen Beteiligten besteht. Das gilt auch bei selbstvollziehenden, also keinen Umsetzungsakt erfordernden Rechtsvorschriften. […] [150] Die Unzulässigkeit der gewählten Handlungsform folgte auch nicht aus der begrenzten Einzelfallsensitivität und dem Fehlen verfahrensmäßiger Grundrechtssicherungen bei der Gesetzgebung, zumal hier die alternative Handlungsform vor allem die Rechtsetzung der Exekutive mittels Rechtsverordnung gewesen wäre. Diese hätte aber kaum stärkere Sicherungen geboten. Es liegt in der Natur einer Epidemie, dass der Staat zum Schutz der Bevölkerung nicht in individuellen Verwaltungsverfahren punktuelle Maßnahmen trifft, sondern dass zur Abwehr der Gefahr großflächige Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Die exekutive Handlungsalternative zum Gesetz ist dann vor allem die Rechtsverordnung, nicht der Einzelakt der Verwaltung. Die Rechtsverordnung regelt Besonderheiten des Einzelfalls jedoch nicht ohne Weiteres genauer als ein Gesetz. […]“ Jura Intensiv Weiterer Gesichtspunkt: Verkürzung des Rechtsschutzes Gewaltenteilungsgrundsatz hat auch zum Ziel, effektiven Rechtsschutz zu ermöglichen. Rechtsschutz gegen formelles Gesetz ist begrenzt, weil es der Einzelne nicht direkt bei den Fachgerichten angreifen kann. Aber: Inzidente Überprüfung per Feststellungsklage ist möglich BVerwGE 166, 265, 268 ff. Alternative zu self executing law wäre hier zudem nicht der (gerichtlich gut angreifbare) VA, sondern die Rechtsverordnung, die aber kaum besser gerichtlich angegriffen werden kann als ein formelles Gesetz. Zentrale Feststellung: Corona lässt sich nicht nur durch Einzelakte bekämpfen, notwendig sind allgemeine Regelungen. Demnach ist der Gewaltenteilungsgrundsatz auch nicht durch eine unzulässige Verkürzung der individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten verletzt worden. bb) Verhältnismäßigkeitsprinzip Die in § 28b I 1 Nr. 1 IfSG normierten Kontaktbeschränkungen könnten gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen. „[174] […] bezweckte der Gesetzgeber ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs, insbesondere Leben und Gesundheit zu schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als überragend gewichtigem Gemeingut und damit zugleich die bestmögliche Krankenversorgung sicherzustellen. Diese Ziele sollten durch effektive Maßnahmen zur Reduzierung von zwischenmenschlichen Kontakten erreicht werden. Legitime Zwecke: Schutz von Leben und Gesundheit, Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems (vgl. BT-Drs. 19/28444, S. 1, 8). Das BVerfG hat die im Frühjahr 2021 bestehende Gefahrenlage sehr ausführlich dargelegt (Rn 177-182 der Entscheidung). © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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