38 Öffentliches Recht RA 01/2022 Wird der Gesetzgeber selbst unmittelbar an dieses Grundrecht gebunden, muss er umgekehrt auch von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch machen können. […] Folglich ist eine Einschränkung der Freiheit der Person durch ein Parlamentsgesetz wie § 28b I 1 Nr. 2 IfSG grundsätzlich möglich. Bzgl. anderweitiger rechtlicher Bedenken gilt das zu den Kontaktbeschränkungen Gesagte (s.o.). Legitime Zwecke Geeignetheit Zusammenfassung der zentralen Argumente des BVerfG; s. im Detail Rn 276-281 der Entscheidung Erforderlichkeit Zusammenfassung der zentralen Argumente des BVerfG; s. im Detail Rn 282-288 der Entscheidung Angemessenheit / Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Zusammenfassung der zentralen Argumente des BVerfG; s. im Detail Rn 289-303 der Entscheidung Das BVerfG hält abschließend allerdings ausdrücklich fest, dass umfassende Ausgangsbeschränkungen nur in einer äußersten Gefahrenlage zulässig sind (Rn 305 der Entscheidung). 2. Schranken-Schranken Fraglich ist, ob die Ausgangsbeschränkungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Sie dienten im Zusammenspiel mit den Kontaktbeschränkungen dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitswesens und damit legitimen Zwecken. Weiterhin durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass nächtliche Zusammenkünfte, die angesichts der dort regelmäßig herrschenden Geselligkeit besondere „Infektionstreiber“ sind, durch die Ausgangsbeschränkungen nicht stattfinden oder eher enden. Folglich förderten die Ausgangsbeschränkungen die Erreichung des Gesetzeszweckes und waren mithin geeignet. Ein gleich geeignetes Mittel wäre zwar die Kontrolle privater Zusammenkünfte zur Nachtzeit gewesen; das hätte jedoch ein flächendeckendes Betreten von Privaträumen und damit einen massiven Eingriff in das Wohnungsgrundrecht des Art. 13 I GG bedeutet, hätte also keine geringere Eingriffsintensität als die Ausgangsbeschränkungen gehabt. Daher waren diese auch erforderlich. Hinsichtlich ihrer Angemessenheit ist in Anbetracht ihres Zusammenwirkens mit den anderen ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen, der erheblichen Auswirkungen auf die private Lebensgestaltung und der großen Streubreite von einem erheblichen Eingriffsgewicht auszugehen. Andererseits dienten die Ausgangsbeschränkungen dem Schutz überragender Gemeinwohlbelange und sahen Ausnahmen vor, um die Eingriffsintensität abzuschwächen, namentlich gab es mit § 28b I 1 Nr. 2 Buchstabe f) IfSG eine Härtefallklausel. Darüber hinaus fielen die Ausgangsbeschränkungen in die regelmäßigen Ruhens- und Schlafenszeiten (22-5 Uhr) und damit in einen Zeitraum, in dem Aktivitäten außerhalb der eigenen Wohnung für die meisten Menschen geringere Bedeutung haben. Daher ist davon auszugehen, dass sie angemessen und somit insgesamt verhältnismäßig waren. Die Ausgangsbeschränkungen waren folglich verfassungskonform. Jura Intensiv Die erörterten fachwissenschaftlichen Fragestellungen und die befragten „sachkundigen Dritten“ finden sich in Rn 81f. der Entscheidung. Siehe dazu Rn 152-165, 256-266 der Entscheidung FAZIT Dogmatisch besonders relevant und damit für das Examen wichtig sind die Ausführungen des BVerfG zur Gewaltenteilung, zur Freiheitsbeschränkung durch psychischen Zwang und zur Rechtfertigung einer Freiheitsbeschränkung „durch Gesetz“. Daneben widerlegt das Gericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gängige Kritik an den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen unter Heranziehung umfangreicher fachwissenschaftlicher Stellungnahmen. Nicht geprüft wurden Verstöße gegen Art. 1 I 1, 2 II 1, 3 I, 5 III 1, 8 I, 11 I GG, weil ein substanziierter Vortrag fehlte. Mit Ausnahme der Menschenwürde, deren Verletzung aber abwegig ist, würde sich jedoch auch unter Zugrundelegung dieser Grundrechte an dem gefunden Ergebnis nichts ändern. Die Bestimmtheit der einschlägigen Bußgeldbestimmungen des IfSG hat das BVerfG im Übrigen auch noch geprüft und bejaht. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 01/2022 Öffentliches Recht 39 Problem: Bundesnotbremse II – Schulschließungen Einordnung: Grundrechte BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21 SACHVERHALT Der ohne Zustimmung des Bundesrates beschlossene § 28b Infektionsschutzgesetz (IfSG) sah in seiner vom 23.4.2021 bis zum 30.6.2021 geltenden Fassung umfassende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vor (sog. Bundesnotbremse). Die Maßnahmen waren abhängig von der Überschreitung bestimmter Grenzwerte (Sieben-Tage-Inzidenz) und umfassten auch Vorgaben für den Schulunterricht bis hin zu Schulschließungen (§ 28b III IfSG). Betroffene Schülerinnen und Schüler sehen sich dadurch in ihrem Grundrecht auf schulische Bildung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 7 I GG verletzt. Ist das der Fall? LÖSUNG Die betroffenen Schülerinnen und Schüler sind durch § 28b III IfSG in ihrem Grundrecht auf schulische Bildung verletzt, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist. I. Eingriff in den Schutzbereich § 28b III IfSG muss in den Schutzbereich des Grundrechts auf schulische Bildung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 7 I GG eingegriffen haben. 1. Eröffnung des Schutzbereichs Der Schutzbereich muss eröffnet sein. Da es an einer ausdrücklichen Normierung fehlt, ist fraglich, ob es überhaupt ein Grundrecht auf schulische Bildung gibt. Jura Intensiv „[46] […] Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft; der Staat muss diejenigen Lebensbedingungen sichern, die für ihr gesundes Aufwachsen erforderlich sind. [47] Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält auch ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). [48] […] Nach Art. 7 Abs. 1 GG kommt dem Staat die Aufgabe zu, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen. Diese dem Staat zugewiesene Aufgabe ist auf das gleiche Ziel gerichtet wie das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf Unterstützung ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Der Staat kommt LEITSÄTZE 1. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). 2. Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen: a) Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen. b) Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt zudem ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems. c) Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das in Ausgestaltung des Art. 7 Abs. 1 GG geschaffene Schulsystem als solches zu verändern. 3. Entfällt der schulische Präsenzunterricht aus überwiegenden Gründen der Infektionsbekämpfung für einen längeren Zeitraum, sind die Länder nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung so weit wie möglich zu wahren. Sie haben dafür zu sorgen, dass bei einem Verbot von Präsenzunterricht nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet. 4. […] 5. Eine die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates gemäß Art. 104a Abs. 4 GG auslösende bundesgesetzliche Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten liegt nur dann vor, wenn das Gesetz nach seinem objektiven Regelungsgehalt bezweckt, Dritten individuelle Vorteile durch staatliche Leistungen zu verschaffen. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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