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RA Digital - 02/2016

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86 Öffentliches Recht

86 Öffentliches Recht RA 02/2016 I. Ermächtigungsgrundlage für die Anordnungen Die Anordnungen (Beschlagnahme und Einweisung) bedürfen als belastende Verwaltungsakte einer Ermächtigungsgrundlage (Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, Art. 20 III GG). 1. § 26 Nr. 1 Nds. SOG Möglicherweise kann sich die Beschlagnahme des Grundstücks auf § 26 Nr. 1 Nds. SOG stützen. Danach können die Verwaltungsbehörden eine Sache sicherstellen, um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren. Das ist strittig und müsste in einer Klausur in jedem Fall genauer untersucht werden (s. zu dem Meinungsstreit jüngst: Fischer, NVwZ 2015, 1644, 1645 mwN.). Überzeugender als das Argument des OVG ist zudem wohl die Erwägung, dass eine Sicherstellung zwingend zu einer Verwahrung führen muss (vgl. § 27 I Nds. SOG), woran es hier fehlt. § 11 Nds. SOG: „Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwehren, soweit nicht die Vorschriften des Dritten Teils die Befugnisse der Verwaltungsbehörden und der Polizei besonders regeln.“ Entscheidender Unterschied zu den „normalen“ Obdachlosenfällen! Dort erfolgt die Einweisung nur in wenigen Fällen und zeitlich begrenzt, also atypisch. In der Flüchtlingskrise drohen hingegen eine Vielzahl an Beschlagnahmen. Wesentlichkeitstheorie Spezialregelungen gibt es in Hamburg (§ 14a SOG) und Bremen (§26a BremPolG). Zu diesen Normen und ihrer gebotenen verfassungskonformen Auslegung: Ewer/ Mutschler-Siebert, NJW 2016, 11, 14 f. „[17] […] Nach dieser Vorschrift kann die Gefahrenlage in einer Eigenschaft der sicherzustellenden Sache begründet sein. Sie kann sich auch aus dem Verhalten des Besitzers der Sache ergeben. Beide Voraussetzungen liegen hier nicht vor, da weder von der Sache – hier dem Grundstück – noch von deren Gewahrsamsinhaber – hier dem Antragsteller – eine gegenwärtige Gefahr ausgeht.“ Somit scheidet § 26 Nr. 1 Nds. SOG als Ermächtigungsgrundlage für die Beschlagnahme aus. 2. § 11 Nds. SOG Mangels anderweitiger spezieller Ermächtigungsgrundlagen können die Beschlagnahme und Einweisung ihre Rechtfertigung nur in der Generalklausel des § 11 Nds. SOG finden. Fraglich ist jedoch, ob ein Rückgriff auf die Generalklausel rechtlich zulässig ist. Wegen des mit den behördlichen Anordnungen verbundenen intensiven Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 14 I 1 GG bedarf es möglicherweise einer speziellen Ermächtigungsgrundlage in einem Parlamentsgesetz (Wesentlichkeitstheorie). „[20] […] Im Fall der gegenwärtig […] drohenden Obdachlosigkeit eines Mieters und der daraus abzuleitenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit hat der Senat es in wenigen Einzelfällen für zulässig gehalten, den Mieter für einen zeitlich eng begrenzten Zeitraum auf der Grundlage der Generalklausel des § 11 Nds. SOG wieder in seine Wohnung einzuweisen. […] Nach den Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid […] verzeichnet die Antragsgegnerin in den letzten Monaten einen stetig anwachsenden, nicht nachlassenden Zustrom von Flüchtlingen. Die Antragsgegnerin sei ohne Inanspruchnahme des Eigentums des Antragstellers durch Beschlagnahme nicht in der Lage, sämtliche noch für dieses Jahr bzw. in den Herbst- und Wintermonaten sowie das nächste Jahr erwarteten Flüchtlinge unterzubringen. Diese Begründung deutet darauf hin, dass mit der hier in Rede stehenden Maßnahme nicht eine sich der Typisierung entziehende, im konkreten Einzelfall drohende Gefahr der Obdachlosigkeit beseitigt werden soll, sondern die Beschlagnahme dem Ziel dient, für eine Vielzahl von Fällen eine sich abzeichnende Notlage bei der Beschaffung von menschenwürdigen Unterkünften für Flüchtlinge abzuwenden. [21] Es stellt sich im Hinblick auf den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts die Frage, ob bei einer solchen Ausgangslage, in der sich nicht nur die Antragsgegnerin, sondern zahlreiche andere Kommunen befinden, der Landesgesetzgeber gefordert ist, die Befugnis zur Beschlagnahme bzw. Sicherstellung von Räumlichkeiten für die Flüchtlingsunterbringung hinsichtlich der Eingriffsvoraussetzungen näher zu umschreiben, um Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis

RA 02/2016 Öffentliches Recht 87 damit der Verpflichtung, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen, zu genügen. […] [22] Im Ergebnis lässt der Senat diese Bedenken in dem vorliegenden Verfahren dahin stehen, weil ungeachtet dessen die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme des Antragstellers als Nichtstörer auf der Grundlage des § 11 Nds. SOG i. V. m. § 8 Nds. SOG nicht gegeben sind.“ II. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnungen Die Anordnungen erfolgten laut Sachverhalt formell rechtmäßig. III. Materielle Rechtmäßigkeit der Anordnungen Die Anordnungen sind materiell rechtmäßig, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 11 Nds. SOG erfüllt sind und das durch die Norm eröffnete behördliche Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde. 1. Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung Gem. § 11 i.V.m. § 2 Nr. 1a) Nds. SOG muss eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegen. „[23] Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass eine drohende unfreiwillige Obdachlosigkeit eine Störung der öffentlichen Sicherheit und damit eine Gefahr i. S. d. §§ 11 und 2 Nr. 1 a Nds. SOG darstellt. […] Die Antragsgegnerin hat in ausreichendem Umfang dargelegt, dass sie in absehbarer Zeit eine bisher nicht bestimmte bzw. näher bestimmbare Zahl von Flüchtlingen aufnehmen muss, für deren Unterbringung sie zuständig ist. […]“ Demnach liegt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor. 2. Verantwortlichkeit Als Adressat der behördlichen Maßnahme muss B für die beschriebene Gefahr verantwortlich sein. Eine Verhaltens- oder Zustandsverantwortlichkeit scheidet von vornherein aus, sodass B nur als Nichtverantwortlicher unter den Voraussetzungen des § 8 Nds. SOG in Anspruch genommen werden kann. Fraglich ist zunächst, ob die dafür erforderliche gegenwärtige erhebliche Gefahr gegeben ist, § 8 I Nr. 1 Nds. SOG. Jura Intensiv „[26] Die Unmittelbarkeit der Gefahr in Gestalt der Obdachlosigkeit von der Antragsgegnerin zugewiesenen Flüchtlingen lag bei Erlass des angefochtenen Beschlagnahmebescheides der Antragsgegnerin nicht vor. Sie besteht auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht. Dies zeigt sich bereits daran, dass selbst nach dem Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin in ihrem Stadtgebiet zurzeit noch freie Kapazitäten für die Unterbringung von Flüchtlingen bestehen. Zudem muss und will sie das streitgegenständliche Objekt mit eigenen Finanzmitteln - in einer Größenordnung von ihr in Höhe von 50.000 EUR angegeben, von dem Antragsteller hingegen auf 200.000 EUR geschätzt - in einem zeitlichen Rahmen von mehreren Wochen erst wieder bezugsfertig machen. Das geht in einer Klausur natürlich nicht, dort muss eine Entscheidung erfolgen (s. dazu unten das Fazit). Den Verwaltungsbehörden in Niedersachsen entsprechen in anderen Bundesländern die Ordnungsbehörden, Ortspolizeibehörden oder Sicherheitsbehörden. § 2 Nds. SOG: “Im Sinne dieses Gesetzes ist 1. a) Gefahr: eine konkrete Gefahr, das heißt eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird; […]“ Genau genommen sind die Rechte des Flüchtlings aus Art. 2 II 1 GG bzw. zumindest aus Art. 1 I 1, 20 II GG (Anspruch auf menschenwürdige Unterkunft) gefährdet. § 8 Nds. SOG: „(1) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können Maßnahmen gegen andere Personen als die nach § 6 oder 7 Verantwortlichen richten, wenn 1. eine gegenwärtige, erhebliche Gefahr abzuwehren ist, 2. Maßnahmen gegen die nach § 6 oder 7 Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen, 3. die Verwaltungsbehörde oder die Polizei die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren kann […]. (2) Die Maßnahmen nach Absatz 1 dürfen nur aufrechterhalten werden, solange die Abwehr der Gefahr nicht auf andere Weise möglich ist.“ Inhaltsverzeichnis

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