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RA Digital - 02/2016

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90 Öffentliches Recht

90 Öffentliches Recht RA 02/2016 Problem: Sicherung eines Anspruchs auf Durchführung eines Bürgerbegehrens Einordnung: Kommunalrecht/Bürgerbegehren OVG Weimar, Beschluss vom 19.11.2015 3 EO 363/15 LEITSATZ Grundsätzlich setzt eine der Sicherung eines geplanten Bürgerbegehrens dienende Einschränkung der Handlungsmacht der Gemeindeorgane das Vorliegen der Anforderungen des § 17 Abs. 5 ThürKO voraus. Eine vorverlagerte Aussetzung des Vollzuges beschlossener Maßnahmen ist in der Regel ausgeschlossen. Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes kommt in eng begrenzten Ausnahmefällen unter Berücksichtigung von Gesichtspunkten der Organtreue in Betracht, wenn das Verhalten der Gemeinde Anlass für die Annahme gibt, dass sie dem Bürgerbegehren bewusst treuwidrig die rechtliche Grundlage entziehen will. EINLEITUNG Streitereien um die Durchführung von Bürgerbegehren landen immer wieder vor Gericht, wie auch der nachfolgend dargestellte Beschluss des OVG Weimar zeigt. Dabei geht es den Antragstellern oftmals darum zu verhindern, dass die Gemeindeverwaltung „Nägel mit Köpfen macht“, bevor es zu einem Bürgerentscheid gekommen ist. Die Rechtslage in Thüringen weist die Besonderheit auf, dass zunächst ein Antrag auf Zulassung des Bürgerbegehrens zu stellen ist (§ 17 III 1 ThürKO), über den die Gemeindeverwaltung entscheidet (§ 17 III 9 ThürKO). Wird der Antrag zugelassen, beginnt das Sammeln der Unterschriften, die vom Bürgermeister geprüft werden (§ 17 IV 1 ThürKO). Danach erst entscheidet der Gemeinderat über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens (§ 17 IV 1, 3 ThürKO). Ist diese festgestellt, kommt es zum Bürgerentscheid. SACHVERHALT (VEREINFACHT DARGESTELLT) Die Stadt Erfurt plant, die Rathausbrücke über die Gera umzugestalten. Im Zuge dessen sollen mehrere Bäume gefällt werden. Den entsprechenden Beschluss fasste der zuständige Ausschuss des Stadtrates am 27.3.2014, am 17.12.2014 beschloss der Stadtrat die Durchführung der Bauarbeiten. Nachdem gegen diesen Beschluss ein Antrag auf Zulassung eines Bürgerbegehrens eingereicht wurde, beschloss der Stadtrat am 28.1.2015 eine Umplanung zum Erhalt der brückennahen Bäume. Die Stadt teilte den Vertretern des Bürgerbegehrens mit, dass dieser Beschluss so zu verstehen sei, dass damit dem Anliegen des Bürgerbegehrens vollständig entsprochen werde. Daraufhin sahen beide Seiten das Bürgerbegehren als erledigt an. Am 15.4.2015 beschloss der Stadtrat jedoch, an der Fällung der umstrittenen Bäume festzuhalten. Als Reaktion darauf reichten die Antragsteller erneut einen Antrag auf Zulassung eines Bürgerbegehrens ein, das die Stadtverwaltung als unzulässig ablehnte. Zur Begründung verwies die Stadtverwaltung darauf, dass der Antrag nicht fristgerecht gestellt worden sei, da der streitige Ratsbeschluss lediglich die mit Beschluss des zuständigen Ausschusses vom 27.3.2014 festgelegte Planung bestätige. Die Antragsteller begehren im Wege des Eilrechtsschutzes gem. § 123 I 1 VwGO der Stadt aufzugeben, es zu unterlassen, die umstrittenen Bäume zu fällen. Ist der zulässige Eilantrag begründet? Jura Intensiv [Anm.: Es ist zu unterstellen, dass das Bürgerbegehren die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt.] Inhaltsverzeichnis

RA 02/2016 Öffentliches Recht 91 LÖSUNG Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 I 1 VwGO ist begründet, soweit die Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht haben, § 123 III VwGO i.V.m. § 920 II ZPO. I. Anordnungsanspruch Der Anordnungsanspruch ist das materielle Recht, das auch im Hauptsacheverfahren durchgesetzt werden soll, hier also der Anspruch darauf, das Fällen der Bäume zu unterlassen. 1. Anspruch aus § 17 V ThürKO § 17 V ThürKO normiert zwar ausdrücklich eine Sperrwirkung. Diese verlangt aber, dass die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens (vom Gemeinde-/Stadtrat) bereits festgestellt wurde. Daran fehlt es hier. Folglich kann sich der behauptete Unterlassungsanspruch nicht aus § 17 V ThürKO ergeben. 2. Anspruch aus § 17 III ThürKO Es könnte sich jedoch aus § 17 III ThürKO ein zu sichernder Anspruch ergeben. a) Vorliegen der Voraussetzungen des § 17 II, III ThürKO Die Voraussetzungen des § 17 II, III ThürKO müssen erfüllt sein. „[22] Mit Blick auf die gesetzliche Ausgestaltung des Bürgerbegehrens und die möglicherweise weitreichenden Folgen der einstweiligen Sicherung eines Bürgerbegehrens kommt eine derartige Anordnung aber nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen des Anordnungsanspruches […] mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit gegeben sind. Die Sicherungsanordnung wird nur dann zu erlassen sein, wenn der Anordnungsanspruch in einem das übliche Maß der Glaubhaftmachung übersteigenden deutlichen Grad von Offenkundigkeit auf der Hand liegt.“ Das Bürgerbegehren erfüllt die gesetzlichen Vorgaben des § 17 II, III ThürKO. Jura Intensiv b) Treuwidriges Verhalten der Stadtverwaltung Da § 17 V ThürKO eine Sperrwirkung erst für den Zeitraum vorsieht, nachdem der Gemeinderat die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festgestellt hat, kommt ein vorgelagerter Unterlassungsanspruch grundsätzlich nicht in Betracht. Eine Ausnahme gilt jedoch, wenn sich die Stadtverwaltung gegenüber dem Bürgerbegehren treuwidrig verhält. „[35] […] Die Gemeindeorgane unterliegen den Handlungsschranken, die sich aus dem im Staatsrecht entwickelten und auf das Verhältnis der Gemeindeorgane zur Bürgerschaft im Rahmen eines Bürgerbegehrens übertragbaren Grundsatz der Organtreue ergeben. Dieser verpflichtet hier die Gemeindeorgane, sich so gegenüber dem Bürgerbegehren zu verhalten, dass dieses seine gesetzlich eröffnete Entscheidungskompetenz ordnungsgemäß wahrnehmen kann, mit anderen Worten, dass bei der Ausübung der gemeindlichen Kompetenzen von Rechts wegen auf die Willensbildung der Bürgerschaft im Rahmen eines Bürgerbegehrens Rücksicht zu nehmen ist. § 17 V Thüringer Gemeinde- und Landkreisordnung (ThürKO): „Ist die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festgestellt, darf bis zur Durchführung des Bürgerentscheids eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung der Gemeindeorgane nicht mehr getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden, […].“ Gemeint ist, dass die Handlungsfähigkeit der Gemeindeverwaltung durch eine Unterlassungsanordnung evtl. erheblich beeinträchtigt wird. In einer Klausur ist diese „hohe Wahrscheinlichkeit“ immer gegeben, weil – anders als in der Praxis – nicht nur summarisch geprüft wird. Übertragung eines Rechtsgedankens aus dem Staatsorganisationsrecht. OVG Münster, Beschluss vom 6.12.2007, 15 B 1744/07, juris Rn 39; VGH Mannheim, Beschluss vom 27.6.2011, 1 S 1509/11, juris Rn 34 Inhaltsverzeichnis

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