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RA Digital - 02/2021

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

70 Zivilrecht

70 Zivilrecht RA 02/2021 Zur den Indizwirkungen: BGH, Urteil vom 06.07.2001, V ZR 246/00 und vom 13.12.2019, V ZR 152/18 Denkbar sind vor allem die nächtlichen Ruhestörungen durch Wiehern, Schnauben oder Treten vor Wände, die Menschen aus dem Schlaf hochschrecken lassen. So mancher findet nicht in den Schlaf zurück. Sowohl zur Unzumutbarkeit der Lärmimmissionen als auch zu den möglichen Abwehrmaßnahmen fehlten Tatsachenfeststellungen des Gerichts. Dies betraf vor allem die andere Beklagte, die den Stall nicht gebaut hat und die wir hier nicht berücksichtigt haben. Diesbezüglich verwies der BGH an das OLG zurück. Der quasinegatorische Unterlassungsanspruch hat hier wegen des öffentlich-rechtlichen Gebotes der Rücksichtnahme große Vorteile für den Kläger. Der V. Zivilsenat erkennt § 1004 I BGB analog i. V. m. diesem Gebot seit langem als Schutzgesetz an: BGH, Urteil vom 26.02.1993, V ZR 74/92 und Urteil vom 29.04.2011, V ZR 174/10 und Urteil vom 13.12.2019, V ZR 152/18. Sofern über § 823 Absatz II BGB im Falle schuldhaften Verhaltens Schadensersatzansprüche ausgelöst werden, müssen Schutzgesetzverletzungen auch schon im Schadensvorfeld abgewehrt werden können. Die vom Gesetzgeber hinterlassene Gesetzeslücke wird über die analoge Anwendung des § 1004 BGB i.V. mit § 823 Absatz II BGB geschlossen (Seidel, NVwZ 2004, 139.) Gesetzliche Ausprägungen des Gebotes der Rücksichtnahme Erster Vorteil für den Kläger: Einer über die Verletzung des Schutzgesetzes hinausgehende Beeinträchtigung bedarf es nicht. IV. Wesentliche Störung i.S.v. § 906 I BGB Grundsätzlich indiziert die Einhaltung der einschlägigen Richtwerte der TA Lärm nach § 906 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BGB die Unwesentlichkeit einer Lärmbeeinträchtigung (…), während die Überschreitung der Richtwerte die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung indiziert (…). Die Grenze der Zumutbarkeit einer Geräuschbelästigung kann aber nicht mathematisch exakt, sondern nur aufgrund einer wertenden Betrachtung bestimmt werden. Dies bestimmt sich nach dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen unter Abwägung der öffentlichen und privaten Belange. Deshalb kann eine von dem Nachbarn nicht hinzunehmende wesentliche Beeinträchtigung auch bei Einhaltung der einschlägigen Richtwerte vorliegen. Ein Anspruch auf Unterlassung aus § 1004 I 1 BGB besteht in einem solchen Fall, wenn feststünde, dass B die durch das Wiehern der Pferde und das Klopfen an die Wände der Boxen verursachte Lärmbelästigung des K nicht anders abstellen oder auf ein zumutbares und von ihr zu duldendes Maß zurückführen kann. Hier steht weder fest, ob die von der Pferdehaltung ausgehenden Lärmimmissionen wie Wiehern, Schnauben oder Klopfen an die Boxen so wesentlich sind, dass die Grenze der Wesentlichkeit gem. § 906 I BGB überschritten ist, noch, ob sich die Beeinträchtigungen durch andere Maßnahmen beseitigen lassen. Damit liegen die Voraussetzungen eines Anspruchs auf vollständige Unterlassung der Pferdehaltung nicht vor. Ein Anspruch aus § 1004 I BGB auf Unterlassung scheidet aus. B. Anspruch K gegen B auf Unterlassung der Pferdehaltung im Offenstall an der Grundstücksgrenze gem. § 823 II BGB i. V. m. § 1004 I BGB analog i. V. m. dem öffentlich-rechtlichen Gebot der Rücksichtnahme K könnte gegen B einen quasinegatorischen Anspruch auf Unterlassung der Pferdehaltung im Offenstall an der Grundstücksgrenze gemäß § 823 II BGB i. V. m. § 1004 I BGB analog i. V. m. dem öffentlich-rechtlichen Gebot der Rücksichtnahme haben. I. Schutzgesetz Der quasinegatorische Unterlassungsanspruch verlangt die Verletzung eines Schutzgesetzes. Ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 II BGB ist jede Rechtsnorm, die zumindest auch individualschützenden Charakter hat. Jura Intensiv [16] Nach der Rechtsprechung des Senats kann die Verletzung nachbarschützender Vorschriften des öffentlichen Baurechts einen (quasinegatorischen) verschuldensunabhängigen Unterlassungsanspruch des Nachbarn gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB begründen (…). Zu den nachbarschützenden Normen des öffentlichen Baurechts zählt das Gebot der Rücksichtnahme (…), das in verschiedenen baurechtlichen Vorschriften eine gesetzliche Ausprägung gefunden hat, etwa in dem Begriff des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB oder in dem Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen“ in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB (vgl. BVerwGE 159, 187 Rn. 11). [17] Liegt ein solcher Verstoß gegen eine nachbarschützende Norm vor, bedarf es für den quasinegatorischen Unterlassungsanspruch keiner über die Verletzung des Schutzgesetzes hinausgehenden Beeinträchtigung des Nachbarn. Denn Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB verlagern den Schutz des Nachbarn vor und knüpfen gerade nicht an einen Verletzungserfolg an (…). Insbesondere ist die Rechtswidrigkeit der Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 02/2021 Zivilrecht 71 Schutzgesetzverletzung im Fall von Immissionen nicht am Maßstab des § 906 BGB zu messen, weil dadurch die spezifische und abstrakte Regelungsfunktion der Schutznorm leerliefe (…). Der quasinegatorische Unterlassungsanspruch setzt somit nicht voraus, dass eine wesentliche Beeinträchtigung i.S.v. § 906 Abs. 1 BGB gegeben ist. Zweiter Vorteil für den Kläger: Es bedarf nicht des Nachweises einer wesentlichen Beeinträchtigung im Sinne des § 906 I BGB. II. Verletzung des Schutzzwecks B muss gegen das öffentlich-rechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstoßen haben. In Betracht kommt das Bauen des Offenstalles ohne Baugenehmigung an der Grundstücksgrenze sowie das Einbringen von Pferden in die Stallung. [19] Entgegen seiner Auffassung steht durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Offenstall gerichtete Klage der hiesigen Beklagten zu 1 mit Bindungswirkung für den vorliegenden Rechtsstreit fest, dass die Errichtung und die zweckgemäße Nutzung des Offenstalls im Verhältnis zu der Klägerin gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen. [20] Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt richtig sieht, binden rechtskräftige Urteile der Verwaltungsgerichte nach § 121 Nr. 1 VwGO die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Zu den Beteiligten zählen nach § 63 Nr. 3 VwGO die Beigeladenen, hier also die Klägerin, die in dem Verfahren der Beklagten zu 1 beigeladen war. Die materielle Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils bindet auch andere Gerichte, einschließlich der Zivilgerichte in einem nachfolgenden Zivilprozess (…). [21] Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts beschränkt sich die Bindungswirkung eines Urteils, mit dem - wie hier - die auf die Verpflichtung der Behörde zum Erlass einer Baugenehmigung gerichtete Klage abgewiesen wird, aber nicht auf die Feststellung, dass der Kläger den Erlass der Baugenehmigung nicht verlangen kann. Vielmehr erwachsen bei einem klageabweisenden Urteil auch die tragenden Gründe in materielle Rechtskraft, da nur sie Aufschluss darüber geben, weshalb ein geltend gemachter Anspruch verneint (oder bejaht) wurde (BVerwGE 131, 346 Rn. 17 f. zu einer Anfechtungsklage; BVerwG, VIZ 1999, 413 zu einer Verpflichtungsklage; vgl. auch Senat, Urteil vom 7. Februar 1992 - V ZR 246/90, BGHZ 117, 159, 166). Die Rechtskraft eines Urteils, durch das die Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung abgewiesen wurde, erstreckt sich daher auch auf die Feststellung der materiellen Baurechtswidrigkeit des Bauwerks (BVerwG, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 33). Weist das Verwaltungsgericht die auf die Verpflichtung der Behörde zur Erteilung einer Baugenehmigung gerichtete Klage mit der - wie hier - tragenden Begründung ab, dass das Bauvorhaben materiell baurechtswidrig ist, weil es gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, steht folglich dieser Verstoß für einen nachfolgenden Zivilprozess unter denselben Beteiligten bzw. Parteien bindend fest. Die Nutzung eines solchen Bauwerks stellt gegenüber dem von dem öffentlich-rechtlichen Gebot der Rücksichtnahme geschützten Nachbarn zivilrechtlich einen Verstoß gegen ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB dar, sodass der Nachbar einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog auf Unterlassung der entsprechenden Nutzung - hier auf Unterlassung der Nutzung des Offenstalls durch das Einstellen von Pferden - hat. Jura Intensiv Den Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme hat das Verwaltungsgericht festgestellt. Bindungswirkung für das Zivilgericht Wichtige Ausführungen zur materiellen Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils und seiner Bindungswirkung für die Zivilgerichte Zur Bindungswirkung: BGH, Urteil vom 07.02.1992, V ZR 246/90 und Urteil vom 17.06.1994, V ZR 34/92 Umfang der materiellen Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils Die Nutzung des Bauwerks stellt einen Verstoß gegen ein Schutzgesetz dar, sodass der Beeinträchtigte analog § 1004 I 1 BGB die Unterlassung verlangen kann. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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