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RA Digital - 02/2021

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

86 Öffentliches Recht

86 Öffentliches Recht RA 02/2021 Zum Prüfungsaufbau: Alternativ kann wie bei den Gleichheitsrechten das Vorliegen einer Ungleichbehandlung und deren Rechtfertigung geprüft werden. Rechtlicher Ausgangspunkt: Freies Mandat Art. 13 II BV entspricht Art. 38 I 2 GG Folgerung aus dem freien Mandat: Abgeordnete haben einen Anspruch auf Gleichbehandlung Weitere Folgerung: Fraktionen haben ebenfalls einen Anspruch auf Gleichbehandlung Art. 16a BV normiert insbesondere ein Recht der Opposition auf Wirkungsmöglichkeiten in Parlament und Öffentlichkeit. Anspruch auf Gleichbehandlung führt zu Neutralitätspflicht der Staatsorgane, insbesondere der Landtagspräsidentin • parteiergreifende Stellungnahmen sind unzulässig LÖSUNG Die Rechtsauffassung der AfD-Fraktion ist zutreffend, wenn ihr das behauptete Organrecht zusteht und dieses durch die Äußerung der Antragsgegnerin verletzt ist. I. Recht auf Neutralität / Chancengleichheit Fraglich ist, ob der AfD-Fraktion dem Grunde nach das von ihr behauptete Organrecht auf neutrale und chancengleiche Behandlung durch die Antragsgegnerin zusteht. „Gemäß Art. 13 Abs. 2 BV sind die Abgeordneten Vertreter des Volkes, nicht lediglich einer Partei; sie sind nur ihrem Gewissen verantwortlich und an Aufträge nicht gebunden. Diese Verfassungsnorm gibt jedem Abgeordneten das subjektive Recht, sein Mandat innerhalb der Schranken der Verfassung ungehindert auszuüben (sog. freies Mandat). Zugleich ist hieraus das Prinzip der egalitären Repräsentation abzuleiten, das zur Folge hat, dass alle Mitglieder des Parlaments einander formal gleichgestellt sind. Denn sie repräsentieren in ihrer Gesamtheit als Volksvertretung im Sinn des Art. 4 BV die stimmberechtigten Bürger, wobei sich die durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV geforderte Gleichheit der Wahl in der Gleichheit der gewählten Abgeordneten widerspiegelt. Das daraus resultierende Recht auf Chancengleichheit bei der Parlamentsarbeit kann auch die Antragstellerin als Zusammenschluss von Abgeordneten für sich in Anspruch nehmen. Wegen ihrer Zugehörigkeit zur parlamentarischen Opposition sind die dargestellten Rechte zudem […] in Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 BV begründet. Aus dem Grundsatz der chancengleichen Beteiligung an der parlamentarischen Willensbildung folgt die Verpflichtung der Staatsorgane, gegenüber den Abgeordneten und den Fraktionen auch im Hinblick auf die Parlamentsarbeit Neutralität zu wahren. Dies gilt insbesondere für die Antragsgegnerin, die zum einen als Präsidentin den Bayerischen Landtag, somit eines der obersten Staatsorgane, repräsentiert und der zum anderen in speziellen Bereichen (vgl. z. B. Art. 18 Abs. 2, Art. 44 Abs. 3 Satz 4 BV) eine eigenständige Organstellung zukommt. Im Rahmen dieser Tätigkeiten ist die Präsidentin zur parteipolitischen Neutralität und zur unparteilichen Amtsführung verpflichtet. Einseitig - zugunsten oder zulasten einzelner Abgeordneter oder Fraktionen - parteiergreifende Stellungnahmen lassen sich auch mit der Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit nicht rechtfertigen. Durch die Geltung des Neutralitätsgebots darf allerdings die Wahrnehmung der Aufgaben als Parlamentspräsidentin nicht infrage gestellt werden.“ Jura Intensiv Demnach steht der AfD-Fraktion gegenüber der Antragsgegnerin ein Organrecht auf neutrale und chancengleiche Behandlung zu. II. Eingriff in das Recht der AfD-Fraktion auf Chancengleichheit Durch die umstrittene Äußerung könnte die Antragsgegnerin in das Recht der AfD-Fraktion auf Chancengleichheit eingegriffen haben. 1. Handeln in amtlicher Eigenschaft Das setzt voraus, dass die Antragsgegnerin die Äußerung in ihrer amtlichen Eigenschaft und nicht als Privatperson oder Parteipolitikerin getätigt hat. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 02/2021 Öffentliches Recht 87 „Die Antragsgegnerin hat die beanstandete Äußerung bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der bayernweiten Veranstaltungsreihe „Lange Nacht der Demokratie“ getätigt, für die sie als Präsidentin des Bayerischen Landtags die Schirmherrschaft übernommen hatte. Die Teilnahme ist ihrer Amtsführung als Landtagspräsidentin zuzurechnen; es handelte sich nicht um einen Termin, den die Antragsgegnerin (lediglich) in ihrer Funktion als Landtagsabgeordnete absolviert hat. Ihr Auftreten bei der Podiumsdiskussion unter dem Thema „Herausforderungen der Demokratie“ diente der Analyse und Aufarbeitung wichtiger, für die gesamte Gesellschaft bedeutsamer Fragen. Es war Teil der Öffentlichkeitsarbeit, die zu den der Antragsgegnerin obliegenden Aufgaben als Parlamentspräsidentin gehört. Auch die Veröffentlichung des Berichts auf der Homepage des Landtags ist der Amtsführung als Landtagspräsidentin zuzurechnen. Mit der Thematik wurde das Demokratieprinzip aufgegriffen, einer der unabänderbaren Grundwerte der Bayerischen Verfassung (Art. 2, 4, 75 Abs. 1 Satz 2 BV), der als solcher jeder (parteipolitischen) Disposition entzogen ist. Dem Bericht über die Podiumsdiskussion ist u.a. zu entnehmen, dass ein maßgebliches Anliegen der Veranstaltung darin bestand, die Bedeutung der Parlamente für das Staatswesen aufzuzeigen und in diesem Zusammenhang aktuelle Entwicklungen kritisch zu hinterfragen.“ Demnach äußerte sich die Antragsgegnerin in ihrer amtlichen Eigenschaft. 2. Missachtung der Neutralitätspflicht Durch ihre umstrittene Äußerung könnte die Antragsgegnerin die ihr der AfD-Fraktion gegenüber obliegende Neutralitätspflicht missachtet haben. Das verlangt eine genaue Auseinandersetzung mit der umstrittene Äußerung. „Soweit die Antragsgegnerin nach dem im Internet veröffentlichten Bericht in Bezug auf die Antragstellerin geäußert hat, „[d]as Muster bei uns im Landtag ist durchgängig Provokation und Abgrenzung gegenüber den ‚Altparteien‘, wie die AfD die anderen Fraktionen nennt“, war dies - wie es auch im Text zum Ausdruck kommt - mit einem konkreten Beispiel untermauert. Die Antragsgegnerin nahm auf einen Vorfall Bezug, bei dem ein Abgeordneter der Antragstellerin in der Plenarsitzung am 7. Juli 2020 am Rednerpult und auf dem Hin- und Rückweg eine Gasmaske trug. Diese offensichtlich als Protest gegen die Maßnahmen der Antragsgegnerin im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gedachte Vorgehensweise hatte zu einer Rüge durch den damals sitzungsleitenden Vizepräsidenten des Landtags geführt. Grundlage für die dem Abgeordneten erteilte Rüge ist die sich aus Art. 20 Abs. 1 und 3 BV i.V.m. § 11 Abs. 2, §§ 102 ff. BayLTGeschO ergebende Aufgabe der Präsidentin oder des Präsidenten, die Sitzungen der Vollversammlungen des Landtags zu leiten und die Ordnung in der Sitzung sicherzustellen. Weder das Ergreifen von Ordnungsmaßnahmen im Rahmen dieser Aufgabenerfüllung noch die Kommunikation entsprechender Vorfälle aus einer öffentlichen Sitzung kann eine Verletzung der Neutralitätspflicht bewirken. Jura Intensiv Eindeutig amtliche Äußerung, daher nur kurze Prüfung Genau genommen ist zwischen der Podiumsdiskussion und der Veröffentlichung auf der Homepage zu differenzieren. Beides fällt hier aber unproblematisch in den Bereich der amtlichen Öffentlichkeitsarbeit. Wichtig: Genaue Prüfung dessen, was gesagt wurde Die Äußerungen in der Podiumsdiskussion sind einzeln unter die Lupe zu nehmen. Kein Verstoß gegen Neutralitätspflicht, da Sachbezug der Aussage © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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