Um die Teilnahmeuntersagung nach § 14 II 1 VersG NRW kontrollierbar zu machen, sieht § 14 II 2 VersG NRW den Erlass einer Meldeauflage vor, ausgestaltet als intendiertes Ermessen der zuständigen Behörde (LT-Drs. 17/12423, S. 71). Auch hier handelt es sich um die ausdrückliche Normierung einer Standardmaßnahme, die es im PolG NRW nicht gibt. § 15 Kontrollstellen Die in § 15 VersG NRW vorgesehenen Durchsuchung und Identitätsfeststellung sind klassische Maßnahmen im Vorfeld einer Versammlung (sog. Vorfeldmaßnahmen), deren Zulässigkeit jetzt ausdrücklich normiert ist. Damit entfällt das bisherige Problem, ob und inwieweit das allgemeine Polizeirecht zur Anwendung kommt. § 17 Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot § 17 VersG NRW gilt nicht nur für Versammlungen, sondern für alle öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel. Aufgrund des Wortlauts des § 17 I VersG NRW können Alltagsgegenstände wie Fahrradhelme und Regenschirme nicht im Vorfeld einer Versammlung pauschal verboten werden. Zudem bedarf es gem. § 17 II VersG NRW eines Verwaltungsakts, der die verbotenen Gegenstände benennt, um das Verbot durchsetzen zu können. § 18 Gewalt- und Einschüchterungsverbot § 18 VersG NRW ist quasi der Ersatz für den Wegfall des Schutzguts der öffentlichen Ordnung in § 13 VersG NRW. Der Gesetzgeber hat hier an aggressive und einschüchternde Begleitumstände einer Versammlung gedacht wie z.B. dem Marschieren im Gleichschritt eines Trommelschlags (LT-Drs. 17/12423, S. 77). Nicht erfasst ist die friedliche Uniformierung von Fußballfans oder Gewerkschaftsmitgliedern bei einer Versammlung (LT-Drs. 17/15821, S. 7). Auch § 18 VersG NRW gilt nicht nur für Versammlungen, sondern für alle öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel und verlangt einen Verwaltungsakt, der die verbotenen Gegenstände und Verhaltensweisen benennt, um das Verbot durchsetzen zu können. § 19 Symbolträchtige Orte und Tage Die Vorschrift ersetzt § 15 II VersammlG des Bundes. Die nach § 19 I 1 Nr. 1 VersG NRW geschützten Tage sind abschließend in § 19 I 3 VersG NRW normiert. Die geschützten Orte werden hingegen gem. § 19 I 2 VersG NRW durch Rechtsverordnung, also von der Exekutive festgelegt, um auf aktuelle Entwicklungen bei extremistischen Veranstaltungen zeitnah reagieren zu können (LT-Drs. 17/12423, S. 78). § 20 Schutz des Landtags § 20 VersG NRW ersetzt das aufgehobene Bannmeilengesetz des Landtags NRW. Jura Intensiv § 21 Öffentliche Verkehrsflächen in Privateigentum Diese Vorschrift ist ebenfalls von ganz erheblicher Prüfungsrelevanz, weil sie der Umsetzung der sog. Fraport-Entscheidung des BVerfG (BVerfG, Urteil vom 22.2.2011, 1 BvR 699/06) und des sog. Bierdosenflashmob-Beschlusses des BVerfG (Beschluss vom 18.7.2015, 1 BvQ 25/15) dient; sie ist Ausdruck der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Zivilrecht. Der Gesetzgeber hat hier Einkaufszentren, Ladenpassagen und sonstige Begegnungsstätten vor Augen (LT-Drs. 17/12423, S. 79). Entscheidend ist gem. § 21 S. 1 VersG NRW, dass die Verkehrsflächen der Allgemeinheit zum kommunikativen Verkehr geöffnet sind. Vor diesem Hintergrund sieht der Gesetzgeber Laden- und Gastronomieflächen selbst als nicht erfasst an, sondern ausschließlich Verbindungswege, „Flaniermeilen und Ruheoasen“ sowie Räume ähnlicher allgemeiner kommunikativer Prägung. § 21 VersG NRW soll letztlich verhindern, dass die Privatisierung solcher traditionell durch öffentliche Straßen und Plätze kultivierter Orte die Ausübung des Versammlungsrechts dort von der Zustimmung der privaten Eigentümer abhängig macht (LT-Drs. 17/12423, S. 79). zum Herausnehmen § 22 Einladung § 22 VersG NRW gilt nur für öffentliche Versammlungen, weil der Teilnehmerkreis bei nichtöffentlichen Versammlungen ohnehin beschränkt ist, vgl. § 2 IV VersG NRW. Weiterhin gilt § 22 VersG NRW nur für Versammlungen in geschlossenen Räumen, weil das Schutzbedürfnis, unter sich bleiben zu können, bei Versammlungen unter freiem Himmel geringer ist. Die mit einer öffentlichen Versammlung angestrebte Offenheit, insbesondere die Ausrichtung auf die Öffentlichkeit, rechtfertigt die in § 22 II 1 VersG NRW garantierte Anwesenheit von Medienvertretern. Fortsetzung siehe am Ende dieser Ausgabe Inhaltsverzeichnis
RA 02/2022 ÖFFENTLICHES RECHT Öffentliches Recht 85 Problem: Bezeichnung eines Sängers als Antisemiten (Xavier Naidoo) Einordnung: Grundrechte BVerfG, Beschluss vom 11.11.2021 1 BvR 11/20 EINLEITUNG Der Beschluss des BVerfG hat Äußerungen über den bekannten Sänger Xavier Naidoo zum Gegenstand und zeigt exemplarisch, wie schwer es selbst für Obergerichte ist, Aussagen als Meinungskundgabe einzustufen und deren Inhalt richtig zu erfassen. SACHVERHALT Die Beschwerdeführerin (B) hielt als Fachreferentin im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“. Nach dem Vortrag äußerte B auf eine Nachfrage, wie sie den Kläger (K) des Ausgangsverfahrens einstufe: „Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“ K ist ein bekannter deutscher Sänger. Im Jahr 2009 verfasste er unter anderem ein Lied, in dessen vierter Strophe es heißt: „Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken / Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken / Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist‘n Fuchs und ihr seid nur Trottel“. Weiter heißt es in einem Liedtext aus dem Jahr 2017 auszugsweise: „Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein / Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“. Im Jahr 2014 hielt er eine Rede bei einer Versammlung sogenannter Reichsbürger vor dem Reichstag. Im Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 äußerte er sich dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte, Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung des K des Ausgangsverfahrens waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen. Das Landgericht untersagte B, wörtlich oder sinngemäß die streitgegenständliche Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten. Die dagegen eingelegte Berufung zum Oberlandesgericht blieb erfolglos. Die beanstandete Äußerung sei zwar eine Meinungsäußerung, obwohl sie einen Tatsachenkern enthalte. Eine Gesamtabwägung ergebe aber, dass der Eingriff in die Ehre und das Persönlichkeitsrecht rechtswidrig gewesen sei. Die personale Würde des K sei beeinträchtigt und es sei eine Prangerwirkung gegeben. Die Bezeichnung als „Antisemit“ sei ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff. Sie sei überdies mehrdeutig und reiche von einem weiten Begriffsverständnis, wonach jeder, der eine wie auch immer geartete negative Wahrnehmung von Juden habe, als Antisemit zu begreifen sei, bis zu einem engen Verständnis, wonach Antisemitismus gleichbedeutend mit Judenhass sei. Dem Werturteil der B liege außerdem ein tatsächlich unrichtiger Äußerungsgehalt zugrunde. Jura Intensiv LEITSÄTZE (DER REDAKTION) 1. Bei der Äußerung „Er ist Antisemit“ handelt es sich um eine Meinungsäußerung. 2. Die sog. Stolpe-Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 25.10.2005, 1 BvR 1696/98) gelangt nur zur Anwendung, wenn es sich um eine mehrdeutige Aussage handelt. Folglich haben die Fachgerichte zunächst zu klären, ob überhaupt eine mehrdeutige Aussage vorliegt. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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