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RA Digital - 02/2022

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88 Öffentliches Recht

88 Öffentliches Recht RA 02/2022 Weiterer Fehler der Zivilgerichte: Einordnung einer Äußerung als Tatsachenbehauptung, obwohl es sich um ein Werturteil handelt. Auch Abwägung des OLG ist falsch Die vom OLG angenommene Prangerwirkung ist abwegig, weil K die Öffentlichkeit sucht, um dort seine umstrittenen Äußerungen zu platzieren. BVerfG zeigt auf, welche Konsequenzen die OLG-Rechtsprechung hätte. [21] Ebenfalls zutreffend rügt die Beschwerdeführerin, dass die Fachgerichte bei ihrer Abwägung verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen sind, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. […] Der in der Äußerung enthaltene Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist jedoch keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an. [22] Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert – namentlich ob der Kläger als bekannter Sänger in seinen Liedtexten und durch seine Äußerungen antisemitische Klischees und Ressentiments bedient. […] [23] Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. […] Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein. Gegen die Meinung der Beschwerdeführerin könnte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens im Meinungskampf seinerseits wieder öffentlich zur Wehr setzen.“ Jura Intensiv Demnach ist der Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht gerechtfertigt, sodass B in ihrem Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG verletzt ist. FAZIT Ist die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit zu prüfen, muss im Rahmen der Angemessenheit in einem 1. Prüfungsschritt der Inhalt der Äußerung richtig erfasst werden, bevor man in einem 2. Prüfungsschritt zur eigentlichen Abwägung gelangt. Gelingt den Gerichten bereits der 1. Prüfungsschritt nicht, liegt automatisch eine Verletzung der Meinungsfreiheit vor – das zeigt die Entscheidung des BVerfG sehr deutlich. Daher darf auch nicht vorschnell von einer mehrdeutigen Äußerung und der Anwendung der sog. Stolpe-Rechtsprechung ausgegangen werden. Deren Kernaussage ist im Übrigen, dass im Fall des begehrten Unterlassens einer mehrdeutigen Aussage diejenige Deutungsvariante zugrunde zu legen ist, die das Persönlichkeitsrecht am schwersten beeinträchtigt. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 02/2022 Öffentliches Recht 89 Problem: Öffentlichkeit von Ratssitzungen Einordnung: Kommunalrecht BVerwG, Urteil vom 27.09.2021 8 C 31.20 EINLEITUNG In dem Urteil geht es um den kommunalrechtlichen Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit. Das BVerwG geht der bislang höchstrichterlich nicht beantworteten Frage nach, welche Rechtsfolgen ein Verstoß gegen diesen Grundsatz hat. Die „RA“ hat bereits über die Berufungsentscheidung des OVG Münster ausführlich berichtet, sodass sich die Darstellung des Urteils des BVerwG auf die zentralen Rechtsprobleme beschränkt. Es bietet sich daher an, erst das Urteil des OVG Münster und dann die nachfolgende Darstellung zu lesen. SACHVERHALT Der Bürgermeister der Stadt Gladbeck berief für den 26.11.2015 eine Ratssitzung ein. Wegen des erwarteten großen Zuschauerinteresses vergab die Verwaltung Eintrittskarten. Von den insgesamt 73 Plätzen wurden acht der Presse, neun verschiedenen Funktionsträgern und sieben dem Bürgermeister zur Verfügung gestellt. Die im Rat vertretenen Fraktionen erhielten insgesamt 25 Karten, die ihnen im Verhältnis zu ihrem Stimmenanteil bei der Kommunalwahl 2014 zugeteilt wurden. Die restlichen 24 Karten vergab die Verwaltung nach der Reihenfolge der Anfragen. Die Klägerin, eine Ratsfraktion, hat gegen den Rat der Stadt Klage erhoben und geltend gemacht, dieses Vergabesystem verletze den Grundsatz der Öffentlichkeit und führe zur Unwirksamkeit der in der Ratssitzung gefassten Beschlüsse. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, die Beschlüsse des Beklagten aus dem öffentlichen Teil der Ratssitzung seien unwirksam. Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Urteil teilweise geändert. Es hat die Feststellung der Verletzung von Organrechten der Klägerin aufrechterhalten. Den weitergehenden Antrag, die Nichtigkeit der Beschlüsse festzustellen, hat es jedoch abgewiesen. Liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzung vor, der zur Nichtigkeit der Ratsbeschlüsse führt? Jura Intensiv LEITSATZ Eine Verletzung des kommunalrechtlichen Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit durch fehlerhafte Vergabe eines Teils der Sitzplätze führt nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zur Unwirksamkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse, wenn die demokratische Kontrollfunktion der Öffentlichkeit nicht mehr gewährleistet war. OVG Münster, Urteil vom 7.10.2020, 15 A 2750/18, RA 2020, 651 Der Rat heißt in anderen Bundesländern Gemeinderat / Stadtrat bzw. Gemeindevertretung / Stadtverordnetenversammlung. LÖSUNG Die Ratsbeschlüsse sind nichtig, wenn tatsächlich ein Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzung vorliegt, der so schwerwiegend ist, dass er zur Unwirksamkeit der Beschlüsse führt. I. Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzung 1. Inhalt des Öffentlichkeitsgrundsatzes „[16] Nach der für das Revisionsgericht bindenden Auslegung irrevisiblen Landesrechts durch das Berufungsgericht verlangt der in § 48 Abs. 2 Satz 1 GO NRW verankerte Grundsatz der Öffentlichkeit von Ratssitzungen eine chancengleiche Zugangsmöglichkeit für jedermann ohne Ansehen der Person im Rahmen verfügbarer Kapazitäten. Bei der Verwirklichung dieses Grundsatzes hat das Berufungsgericht dem Vorsitzenden des Rates einen durch das Willkürverbot begrenzten Ermessensspielraum Zusammenfassung der Ausführungen des Berufungsgerichts zum Inhalt des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit: • Chancengleiche Zugangsmöglichkeit für jedermann • Bevorzugte Vergabe von Zuhörerplätzen rechtlich zulässig, wenn es dafür einen sachlichen Grund gibt und eine relevante Anzahl an allgemein zugänglichen Plätzen verbleibt © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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