90 Öffentliches Recht RA 02/2022 zuerkannt und eine bevorzugte Vergabe von Zuhörerplätzen nur für zulässig gehalten, soweit sie im Einzelfall aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist und sofern daneben noch eine relevante Anzahl an allgemein zugänglichen Plätzen verbleibt. Auch ein besonderes berufliches oder dienstliches Interesse kann nach dem berufungsgerichtlichen Verständnis des Öffentlichkeitsgrundsatzes eine bevorzugte Platzvergabe sachlich rechtfertigen. Diese Auslegung steht mit Bundesrecht, namentlich dem Demokratiegebot, im Einklang. BVerwG bestätigt die Rechtsansicht des Berufungsgerichts Verstoß (+) bzgl. Sitzplatzvergabe an Fraktionen, drei Einzelpersonen und eine Bürgerinitiative Verstoß (-), bzgl. Sitzplatzvergabe an die Presse und soweit das Prioritätsprinzip angewendet wurde [17] Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Ratssitzungen konkretisiert Anforderungen des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG), an dessen Grundsätze die Gemeinden gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 GG gebunden sind. […] Die Öffentlichkeit von Ratssitzungen stellt einen tragenden Grundsatz der demokratischen Willensbildung in den Kommunen dar. Sie verfolgt den Zweck, der Allgemeinheit in Bezug auf die Arbeit des kommunalen Vertretungsorgans Publizität, Information, Kontrolle und Integration zu vermitteln. Die Auslegung des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch das Berufungsgericht wird diesen Anforderungen gerecht. Sie gewährleistet die chancengleiche Zugangsmöglichkeit für jedermann und lässt einen bevorzugten Zugang Einzelner nur bei sachlicher Rechtfertigung und nur in so begrenztem Umfang zu, dass die allgemeine Zugänglichkeit gewahrt bleibt. Das bundesverfassungsrechtliche Demokratiegebot verlangt keine strengere Auslegung des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit. Insbesondere lässt sich ihm nicht entnehmen, dass eine durch sachliche Gründe gerechtfertigte bevorzugte Vergabe von Zuhörerplätzen von vornherein ausgeschlossen wäre.“ 2. Verstoß „[18] Revisionsrechtlich fehlerfrei hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Platzvergabe für die in Rede stehende Ratssitzung den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit verletzt hat. Dass 25 Karten den Ratsfraktionen zur Verteilung überlassen wurden, hat es ebenso wie die bevorzugte Platzvergabe an drei namentlich benannte Einzelpersonen und an Mitglieder nur einer von zwei mit dem streitigen Thema befassten Bürgerinitiativen im Einklang mit Art. 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG für sachlich nicht gerechtfertigt und daher für unzulässig gehalten. Jura Intensiv [21] Mit dem demokratischen Grundsatz der Öffentlichkeit gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG steht auch in Einklang, dass das Berufungsgericht die Vergabe von Zuhörerplätzen an interessierte Bürgerinnen und Bürger nach dem Prioritätsprinzip unbeanstandet gelassen hat. Eine allein an dem zeitlichen Eingang einer Anfrage orientierte Platzvergabe stellt ein objektives Verteilungsverfahren dar, das jedem Bürger im Rahmen verfügbarer Kapazitäten gleichen Zugang zur Ratssitzung ermöglicht. Auch die bevorzugte Vergabe von Plätzen an Vertreter der Presse durfte das Berufungsgericht für zulässig erachten. Diese Praxis trägt Art. 5 Abs. 1 GG Rechnung, dient dem Informationsinteresse der Bürger und fördert die öffentliche Kontrolle der Ratssitzung.“ Somit liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzung vor. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 02/2022 Öffentliches Recht 91 II. Auswirkungen des Rechtsverstoßes Fraglich ist jedoch, ob dieser Rechtsverstoß auch zur Unwirksamkeit der angegriffenen Ratsbeschlüsse führt. „[23] Das Berufungsgericht ist der von der Klägerin vertretenen Auffassung, wonach jeder Verstoß gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit zur Unwirksamkeit der in der Ratssitzung gefassten Beschlüsse führen soll, zu Recht nicht gefolgt. Zwar stellt der unrechtmäßige vollständige Ausschluss der Öffentlichkeit einen erheblichen Verfahrensmangel dar, der regelmäßig die Unwirksamkeit der in nichtöffentlicher Sitzung gefassten Beschlüsse zur Folge hat. Daraus folgt jedoch nicht, dass demokratische Grundsätze im Sinne des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG dazu verpflichteten, bei jedem Verstoß gegen die Sitzungsöffentlichkeit stets alle betroffenen Ratsbeschlüsse für nichtig zu halten. Wenn nur ein begrenzter Teil der zur Verfügung stehenden Plätze ermessensfehlerhaft vergeben wurde, während die übrigen für jedermann chancengleich zugänglich blieben, ist die Nichtigkeitsfolge bundesrechtlich nicht zwingend. Vielmehr erlaubt es der Grundsatz der Rechtssicherheit, der nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG neben dem Demokratiegebot zu beachten ist, eine Nichtigkeit nur bei schweren Verstößen gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz vorzusehen. […] [24] Die Voraussetzungen, unter denen eine ermessensfehlerhafte Vergabe eines Teils der Zuschauerplätze einen schweren Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz darstellt und nach demokratischen Grundsätzen die Nichtigkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse zur Folge haben muss, sind nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG entsprechend dem Zweck dieser Gewährleistung anhand der demokratischen Funktion der Öffentlichkeit zu bestimmen. Die berufungsgerichtliche Annahme, ein schwerer Verstoß gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit fehle schon, wenn eine relevante Anzahl allgemein zugänglicher Plätze verbleibe und die Zuhörerschaft insgesamt nicht das Gepräge eines von den politischen Akteuren gezielt zusammengestellten Publikums habe, steht damit nicht im Einklang. Das Demokratieprinzip verlangt eine wirksame Kontrolle der Gemeindevertretung durch die Öffentlichkeit. Maßgeblich ist daher nicht, ob der Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz das Ergebnis bewusster oder gar absichtlicher politischer Einflussnahme ist. Vielmehr kommt es darauf an, ob trotz der fehlerhaften Platzvergabe die Information der Allgemeinheit, die Transparenz der Sitzung und die demokratische Kontrollfunktion der Öffentlichkeit noch gewährleistet sind. Dies setzt voraus, dass eine hinreichende Anzahl allgemein zugänglicher Plätze verbleibt und die Zusammensetzung der Zuhörerschaft zufallsabhängig ist. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, liegt ein schwerer Verstoß gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit vor, der zur Unwirksamkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse führt. Jura Intensiv [25] Das Berufungsurteil erweist sich indessen aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Bei Anwendung des bundesrechtlich zutreffenden Maßstabs führt der festgestellte Verstoß gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit nicht zur Unwirksamkeit der in der Ratssitzung gefassten Beschlüsse. Insoweit hat das Berufungsgericht die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen stand Rechtswidriger vollständiger Ausschluss der Öffentlichkeit führt i.d.R. zur Unwirksamkeit der Beschlüsse. Im Übrigen Nichtigkeit nur (+) bei schweren Verstößen. Arg.: Grundsatz der Rechtssicherheit. Maßstab für die Bestimmung der Schwere des Verstoßes Rechtsansicht des Berufungsgerichts wird diesem Maßstab nicht gerecht. Zentrale Ausführungen des BVerwG: Entscheidend für Schwere des Verstoßes ist, ob die demokratische Kontrollfunktion des Öffentlichkeitsgrundsatzes noch gewährleistet ist • trotz fehlerhafter Sitzplatzvergabe bleibt Ratsbeschluss wirksam, wenn hinreiche Anzahl der allgemein zugänglichen Plätze verbleibt und Zusammensetzung der Zuhörerschaft zufallsabhängig ist. Aber: Urteil des Berufungsgerichts im Ergebnis richtig, weil die vom BVerwG formulierten Anforderungen erfüllt sind. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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