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RA Digital - 02/2023

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92 Öffentliches Recht

92 Öffentliches Recht RA 02/2023 Problem: Äußerungen eines Oberbürgermeisters in einer Ratssitzung Einordnung: Kommunalrecht VGH Mannheim, Urteil vom 03.11.2022 1 S 2686/21 LEITSÄTZE 1. Einem Gemeinderat steht ein organschaftliches Abwehrrecht gegenüber Äußerungen anderer Organe oder Organteile während einer Gemeinderatssitzung aus § 32 Abs. 3 GemO (sog. freies Mandat) in Verbindung mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue zu, wenn Äußerungen eines Gemeinderatsmitglieds ihm gegenüber den Tatbestand der groben Ungebühr erfüllen oder als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sind oder unsachliche Äußerungen gegenüber einem Gemeinderatsmitglied darstellen, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören. 2. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Neutralitätspflicht eines Bürgermeisters im Verhältnis zu politischen Parteien und zum Sachlichkeitsgebot als allgemeiner Grenze der Äußerungsbefugnis bei öffentlichen Äußerungen eines kommunalen Amtsträgers in amtlicher Eigenschaft ist auf Redebeiträge eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, nicht anwendbar. 3. […] 4. Bei Redebeiträgen eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, unterliegt dieser den für alle Gemeinderatsmitglieder geltenden Einschränkungen. Obersatz EINLEITUNG Eine neue Runde im Examensdauerbrenner „Äußerungen von Hoheitsträgern“. Diesmal geht es um die Doppelrolle eines Oberbürgermeister (einerseits Vorsitzender des Gemeinderats und andererseits gewähltes Ratsmitglied) und die Konsequenzen, die das für die rechtliche Zulässigkeit seiner Äußerungen hat. Hinweise zur Terminologie: In Baden-Württemberg heißt der Gemeinderat auch in den Städten Gemeinderat und nicht Stadtrat. In einigen Bundesländern wird der Gemeinderat als Gemeindevertretung bezeichnet (z.B. in Hessen und Brandenburg). SACHVERHALT Der Kläger ist Mitglied des Gemeinderats der Stadt F, der Beklagte ist als Oberbürgermeister der Vorsitzende dieses Gemeinderats. Im Zuge von Neubesetzungen der Ausschüsse des Gemeinderats kam es zu verbalen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der Kläger den von der Verwaltung erarbeiteten Beschlussvorschlag massiv kritisierte, weil er demokratischen Grundsätzen widerspräche und verlangte, dass er von der Tagesordnung genommen wird. Er äußerte u.a. wörtlich: „Sie [gemeint sind die Ratsmitglieder] erklären mir, warum das gerecht ist und der Bürger auf der Straße sich nicht verarscht vorkommen soll, wenn wir hier solche Spielchen treiben.“ Daraufhin äußerte der Beklagte von seinem Sitzplatz als Vorsitzender: „Vielen Dank Herr …, ich glaube Gegenrede formal. Das ist schade, dass Sie das nicht verstehen, aber vielleicht hängt das auch am eingeschränkten Demokratieverständnis. Wir stimmen über Ihren Absetzungsantrag ab.“ Der Kläger sieht sich durch diese Äußerung in seinen Rechten als Ratsmitglied verletzt, weil der Beklagte die ihn als Oberbürgermeister treffende Verpflichtung zur Sachlichkeit und Neutralität verletzt habe. Ist diese Rechtsauffassung zutreffend? Jura Intensiv [Anm.: § 11 II der Geschäftsordnung des Gemeinderats der Stadt F sieht vor, dass der Vorsitzende nach jedem Redner das Wort ergreifen darf. Bei einem Antrag zur Geschäftsordnung darf zudem einem Ratsmitglied außer der Reihe das Wort erteilt werden (§ 11 VI der Geschäftsordnung). Die Formulierung „Gegenrede formal“ wird im Gemeinderat von F genutzt, um anzuzeigen, dass inhaltlich eine gegenteilige Auffassung vertreten wird, die zur Zeitersparnis nicht im Detail begründet wird. Zudem erfolgen die Redebeiträge üblicherweise vom Sitzplatz des jeweiligen Ratsmitglieds, nur in außergewöhnlichen Situationen wird vom Rednerpult aus gesprochen.] LÖSUNG Die Rechtsauffassung des Klägers ist zutreffend, wenn ihn die umstrittene Äußerung des Beklagten in einer Rechtsposition beeinträchtigt und dieser Eingriff nicht gerechtfertigt ist. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 02/2023 Öffentliches Recht 93 I. Rechtsposition des Klägers Die einschlägige Rechtsposition des Klägers, der Ratsmitglied ist, könnte sich aus seinem in § 32 III GemO verankerten sog. freien Mandat i.V.m. dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue ergeben. „[…] Aus dem sogenannten freien Mandat folgt das Rede- und Antragsrecht des Gemeinderats. Der Grundsatz der Organtreue wiederum wurzelt in dem verfassungsrechtlichen Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme sowie in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben und ist auch auf das Verhältnis zwischen kommunalen Organen und Organteilen übertragbar. Hieraus folgt ein Abwehranspruch gegenüber rechtswidrigen Störungen, die eine ungeschmälerte Ausübung der Mitwirkungsbefugnisse des Gemeinderats vereiteln. Eine derartige Störung liegt bei Äußerungen eines Gemeinderatsmitglieds vor, wenn die Äußerungen den Tatbestand der groben Ungebühr erfüllen, als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sind oder unsachliche Äußerungen gegenüber einem Gemeinderatsmitglied darstellen, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören. Denn in diesen Fällen wird die Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte des Gemeinderates in einer rücksichtslosen und treuwidrigen Art und Weise vereitelt. Da das freie Mandat in Verbindung mit dem Grundsatz der Organtreue ein wehrfähiges Organrecht darstellt, kann sich der Kläger auch auf dieses berufen.“ II. Anforderungen an Äußerungen des Oberbürgermeisters Da der Oberbürgermeister der Vorsitzende des Gemeinderats ist, gelten für seine Äußerungen im Rahmen von Ratssitzungen möglicherweise strengere Maßstäbe als für die anderen Ratsmitglieder. „Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind das Neutralitätsgebot gegenüber politischen Parteien und im Übrigen das Sachlichkeitsgebot dann anwendbar, wenn sich ein Amtsträger in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion äußert. Denn dem Amtsträger ist eine lenkende oder steuernde Einflussnahme auf den politischen Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung verwehrt. Das Neutralitätsgebot und das Sachlichkeitsgebot sind somit nur dann anzuwenden, wenn sich ein Bürgermeister in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion äußert. Bei Redebeiträgen eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, handelt es sich jedoch nicht um Äußerungen, die der Bürgermeister in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion tätigt. Denn dem Bürgermeister kommt im gemeindlichen Kompetenzgefüge eine Doppelrolle zu. Er ist zum einen gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 GemO der Leiter der Gemeindeverwaltung und Vorsitzender des Gemeinderats. Zum anderen ist er gemäß § 25 Abs. 1 und §§ 46 ff. GemO ein von den Bürgern direkt gewähltes Gemeinderatsmitglied mit einem kommunalpolitischen Mandat. Deshalb hat er neben der Leitung der Verwaltung auch eine originär politische Funktion wahrzunehmen. Als Mitglied des Gemeinderats kommt ihm damit gemäß § 24 Abs. 1, § 25 Abs. 1, § 37 Abs. 1 GemO ein Rederecht zu. Zur Abgrenzung zwischen einer Tätigkeit des Bürgermeisters im Rahmen seiner Leitungsfunktion und einer politischen Teilnahme am Meinungskampf kommt es auf die konkreten Umstände der streitgegenständlichen © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis § 32 III GemO: „Die Gemeinderäte entscheiden im Rahmen der Gesetze nach ihrer freien, nur durch das öffentliche Wohl bestimmten Überzeugung. An Verpflichtungen und Aufträge, durch die diese Freiheit beschränkt wird, sind sie nicht gebunden.“ Inhalt des freien Mandats und des Grundsatzes der Organtreue Konsequenz: Innerorganisatorischer Unterlassungs- und Störungsbeseitigungsanspruch (vgl. auch OVG Münster, Beschluss vom 19.08.2011, 15 A 1555/11, juris Rn 16 und Urteil vom 27.07.1990, 15 A 709/88, juris Rn 2-4). Fallgruppen, in denen dieser Anspruch bei Äußerungen im Gemeinderat greift. Hintergrund: Betroffenes Ratsmitglied wird in ein schlechtes Licht gerückt. Strengere Anforderungen an Äußerungen des Oberbürgermeisters im Gemeinderat? Vgl. BVerwG, Urteil vom 13.09.2017, 10 C 6.16, juris Rn 24-28, RA 1/2018, 29, 31 f. Entscheidend: Hat sich der Oberbürgermeister in amtlicher Eigenschaft geäußert? Besonderheit: Doppelrolle des Bürgermeisters: Ratsvorsitzender und gewähltes Ratsmitglied (das ist der Bürgermeister in vielen Bundesländern, nicht aber z.B. in Hessen und Bremerhaven). Abgrenzungskriterien Übertragung der Kriterien, die für Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung gelten (vgl. BVerfG, Urteil vom 15.06.2022, 2 BvE 4/20, Rn 81, RA 8/2022, 421, 423 f.).

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