90 Öffentliches Recht RA 02/2024 Schranke: Kollidierendes Verfassungsrecht (gleiche Rechtslage wie nach dem GG) Hier: Funktionsfähigkeit des Landtags Problem: Parlamentsgesetz erforderlich? Nein, Hausrecht aus Art. 21 I BV genügt (auf Bundesebene Art. 40 II 1 GG) Problem: Geschäftsordnungsrecht des Landtags (auf Bundesebene Art. 40 I 2 GG) Vorrang der Geschäftsordnung vor dem Hausrecht Hier: Regelungen in der Geschäftsordnung (-) Problem: Gilt das Hausrecht auch für die Parlamentssitzungen? (+) bei Schutz vor externen Gefahren Arg.: Wortlaut und unterschiedlicher Zielsetzung von Hausrecht und Sitzungsordnung (a.A. Drossel/Weber, NVwZ 2022, 365, 368 f.) II. Rechtfertigung des Eingriffs Die dargelegten Beeinträchtigungen könnten gerechtfertigt sein. Da Art. 13 II, 16 I, II 1 BV keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt normieren, kommt eine Rechtfertigung nur zum Schutze kollidierenden Verfassungsrechts in Betracht. „Die Freiheit des Abgeordnetenmandats und die damit korrespondierenden Fraktionsrechte sind aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt werden, zu denen namentlich die Repräsentations- und die Funktionsfähigkeit des Parlaments gehören.“ 1. Gesetzliche Grundlage Fraglich ist, ob das kollidierende Verfassungsrecht hier einer parlamentsgesetzlichen Konkretisierung bedarf. „Dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Bayerischen Landtags dient auch das der Landtagspräsidentin in Art. 21 Abs. 1 Alt. 1 BV zugewiesene Hausrecht, das die ungestörte Erfüllung der öffentlichen Aufgaben des Parlaments sichern soll. Auf das Hausrecht gestützt werden können nicht nur Entscheidungen darüber, wer zum Landtag und seinen Einrichtungen Zutritt hat, sondern auch Verhaltensregeln für den Aufenthalt in den Räumen des Parlaments, sei es durch Einzelmaßnahmen oder im Rahmen einer Hausordnung. Diese hausrechtlichen Anordnungsbefugnisse der Landtagspräsidentin bestehen grundsätzlich auch gegenüber den Abgeordneten. Da das Hausrecht eine der Landtagspräsidentin verfassungsunmittelbar zugewiesene Kompetenz darstellt, gilt für solche Maßnahmen entgegen dem Vortrag der Antragsteller weder das Erfordernis einer formell-gesetzlichen Grundlage noch ein sonstiger Parlamentsvorbehalt. Bei der Ausübung des Hausrechts […] können sich allerdings Überschneidungen mit dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments in Gestalt seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 20 Abs. 3 BV) ergeben. Diese umfasst die prinzipielle Befugnis des Landtags, seine interne Organisation und seinen Geschäftsgang eigenständig zu regeln. Zu den anerkannten Regelungsgegenständen des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts gehören insbesondere die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Sitzungen und damit auch die Fragen der Disziplin und der Sitzordnung. Soweit das Parlament diesbezüglich eigene Regelungen getroffen hat, die vom jeweiligen Sitzungsleiter kraft seiner Ordnungsgewalt zu vollziehen sind, muss das Hausrecht der Parlamentspräsidentin zurücktreten. Für den Bayerischen Landtag war dies aber bezogen auf die Corona-Pandemie [bzgl. der hier streitgegenständlichen Maßnahmen nicht geschehen]. Jura Intensiv Aus dem prinzipiellen Vorrang der parlamentarischen Geschäftsordnung ergab sich indes keine strikte Sperrwirkung dergestalt, dass sich die hausrechtlichen Anordnungen von vornherein nicht auf den Sitzungsbetrieb im Plenum und in den Ausschüssen beziehen oder darauf auswirken durften. Das Hausrecht nach Art. 21 Abs. 1 Alt. 1 BV erfasst räumlich das gesamte Landtagsgebäude und demzufolge auch den Plenarsaal und die für Ausschusssitzungen genutzten Räume. Es Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 02/2024 Öffentliches Recht 91 soll im Unterschied zur Ordnungs- und Disziplinargewalt des jeweiligen Sitzungsleiters nicht (lediglich) den störungsfreien Verlauf einer aktuell stattfindenden Sitzung gewährleisten, sondern den Landtag allgemein vor funktionsbeeinträchtigenden externen Einwirkungen schützen und damit die Parlamentsautonomie nach außen sichern. Um eine solche von außerhalb des Parlaments drohende Gefährdung ging es im Prinzip auch bei den Anordnungen zum Tragen einer Schutzmaske und zur Einhaltung eines Mindestabstands, die einen (weiteren) Eintrag des Coronavirus SARS-CoV-2 in die Räume des Landtags erschweren und eine Infektion von Abgeordneten verhindern sollten. […] Erst bei tatsächlicher Wahrnehmung der speziell sitzungsbezogenen Regelungsbefugnisse wäre das allgemeinere Hausrecht verdrängt worden. Die Verbindlichkeit der gegenüber den Abgeordneten getroffenen Anordnungen setzte demnach weder ihre (zumindest konkludente) Übernahme in die Parlamentsgeschäftsordnung voraus noch musste hierfür zwingend auf die - nach überwiegendem Verständnis nur der Abwehr konkreter Gefahren dienende - Polizeigewalt der Landtagspräsidentin zurückgegriffen werden. Wenn im Verlauf einer Plenaroder Ausschusssitzung seitens eines Landtagsabgeordneten gegen die Maskenpflicht oder das Abstandsgebot verstoßen wurde, oblag es dem zuständigen Sitzungsleiter, die zur Durchsetzung geeigneten und dem jeweiligen Einzelfall angemessenen Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen […].“ Demnach stellt das in Art. 21 I BV verankerte Hausrecht der Landtagspräsidentin eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage für den Erlass der umstrittenen Anordnungen dar. 2. Verhältnismäßigkeit / Abwägung Weiterhin müssen die Anordnungen möglicherweise auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. „Bei der Wahrnehmung der hausrechtlichen Befugnisse nach Art. 21 Abs. 1 Alt. 1 BV muss die Landtagspräsidentin die davon betroffenen Rechte der Abgeordneten und Fraktionen mit den widerstreitenden Rechtsgütern der Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Parlaments abwägen und in einen angemessenen Ausgleich bringen. Ob und inwieweit bei derartigen Kompetenzabgrenzungen auf der Ebene der Staatsorganisation auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anwendbar ist, bedarf hier keiner abschließenden Klärung. Die auf das Hausrecht gestützten Maßnahmen dürfen jedenfalls nicht von vornherein ungeeignet sein, die parlamentarischen Abläufe vor äußeren Störungen zu bewahren. Zudem dürfen sich daraus schon mit Blick auf die wechselseitige Verpflichtung zur Verfassungsorgantreue keine erheblichen Erschwernisse der Mandatsausübung ergeben. Bei der konkreten Bewertung der Gefahrenlage sowie bei der Wahl der zur Zielerreichung in Betracht kommenden Mittel und damit auch bei der Frage ihrer Erforderlichkeit verfügt die Landtagspräsidentin aber über einen verfassungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Einschätzungsspielraum, da die Verfassung ihr das Hausrecht an den Parlamentsräumen als eine eigenständig auszuübende Kompetenz übertragen hat.“ Jura Intensiv Hier: Schutz vor externen Gefahren (+) Vgl. hierzu Lange, JURA 2023, 1040, 1043-1045 Anordnung der Verhaltensregeln aufgrund des Hausrechts, Durchsetzung in den Sitzungen aufgrund der Ordnungsgewalt. Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips im StaatsorgaR fraglich (vgl. dazu Linke, NVwZ 2021, 1265, 1270 f.). Geboten ist jedenfalls eine Abwägung, um das freie Mandat effektiv zu schützen, unabhängig davon, ob das als Verhältnismäßigkeitsprüfung bezeichnet wird. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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