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RA Digital - 03/2017

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122 Zivilrecht

122 Zivilrecht RA 03/2017 Problem: Haftung auf Schmerzensgeld aus Billigkeitsgründen Einordnung: Deliktsrecht BGH, Urteil vom 29.11.2016 VI ZR 606/15 LEITSÄTZE 1. Ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB ist nicht schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern. 2. Gemäß § 829 BGB insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zu berücksichtigen. Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein „wirtschaftliches Gefälle“ zugunsten des Schädigers vorliegen muss. Die Billigkeit erfordert es nicht, dem Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung ungeachtet des Trennungsprinzips eine anspruchsbegründende Bedeutung zukommen zu lassen. EINLEITUNG Obwohl eine Verantwortlichkeit wegen §§ 827, 828 BGB nicht gegeben ist, kann gem. § 829 BGB eine Ersatzpflicht bestehen, wenn dies unter Berücksichtigung der Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten erforderlich ist. § 829 BGB bildet damit eine Ausnahmeregelung zu den allgemeinen Verschuldensgrundsätzen. SACHVERHALT Der Kläger (K) ist seit 1990 Lokführer im Fernverkehr der Deutschen Bahn AG. Er war bereits mehrfach - das vorletzte Mal im August 2010 - in Unfälle verwickelt, bei denen Personen sich das Leben nahmen. Am 24.12.2011 will K als Lokführer eines IC am Hauptbahnhof Hannover aus Gleis 11 abfahren. Der Beklagte (B) sitzt an diesem Gleis auf einer Bank. Als der Zug anfährt, springt er plötzlich vor dem IC auf das Gleisbett. K kann den Zug mit einer Schnellbremsung stoppen, so dass B nicht verletzt wird. B ist seit längerem ernsthaft psychiatrisch erkrankt und drogenabhängig. Im Zeitpunkt des Vorfalls steht er unter Betreuung und befindet sich wegen einer akuten Psychose in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. Derzeit absolviert er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Über eigenes Vermögen verfügt er nicht. Er ist über seine Mutter haftpflichtversichert. K wird nach dem Vorfall bis Ende Juli 2012 krankgeschrieben. Er behauptet, aufgrund des Vorfalls eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten zu haben. Nachdem seine Klage in einem Vorprozess gegen die Mutter und damalige Betreuerin des B mangels Verletzung einer Aufsichtspflicht abgewiesen wurde, verlangt er nunmehr von B Schmerzensgeld i.H.v. 6.000 € aus Billigkeitsgründen. Zu Recht? Jura Intensiv PRÜFUNGSSCHEMA A. Anspruch K gegen B aus §§ 829, 253 II BGB I. Objektiver Tatbestand des § 823 I BGB II. Ausschluss der Haftung gem. § 827 BGB III. Kein Ersatz vom Aufsichtpflichtigen IV. Haftung aus Billigkeitsgründen B. Ergebnis LÖSUNG A. Anspruch K gegen B aus §§ 829, 253 II BGB K könnte gegen B einen Anspruch auf Schmerzensgeld i.H.v. 6.000 € gem. §§ 829, 253 II BGB haben. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2017 Zivilrecht 123 I. Objektiver Tatbestand des § 823 I BGB Indem B vor den Zug sprang und der Lokführer K dadurch eine posttraumatische Belastungsstörung erlitt, hat B die Gesundheit des K verletzt und damit den objektiven Tatbestand des § 823 I BGB erfüllt. II. Ausschluss der Haftung gem. § 827 BGB B ist seit längerem psychiatrisch erkrankt und drogenabhängig. Im Zeitpunkt des Vorfalls befand er sich wegen einer akuten Psychose in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. Seine Haftung ist daher nach § 827 BGB ausgeschlossen. III. Kein Ersatz vom Aufsichtspflichtigen Mangels Verletzung einer Aufsichtspflicht besteht keine Ersatzpflicht seiner Mutter als damalige Betreuerin des B. IV. Haftung aus Billigkeitsgründen Weiterhin müsste die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordern. „II.1. Dabei muss bedacht werden, dass die verschuldensunabhängige Haftung aus § 829 BGB im deliktischen Haftungssystem eine Ausnahme bildet. Deswegen ist, entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift, nach ständiger Rspr. ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB nicht schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern. Schon dieser Ausnahmecharakter des § 829 BGB zwingt dazu, die Voraussetzungen, unter denen eine Schadloshaltung des Geschädigten als billig anzusehen ist, hoch anzusetzen.“ „II.1. Gem. § 829 BGB sind insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zu berücksichtigen, wobei maßgeblicher Zeitpunkt derjenige der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist. Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein „wirtschaftliches Gefälle“ zugunsten des Schädigers vorliegen muss. Als ein für die Vermögenslage des Schädigers bedeutsamer Umstand ist das Bestehen einer Pflichtversicherung, wie der Kfz-Pflichthaftpflichtversicherung, anzuerkennen, da deren Zweck in erster Linie auf den Schutz des Geschädigten ausgerichtet ist. Diese besondere Zweckbestimmung der Pflichthaftpflichtversicherung im Kraftfahrzeugverkehr rechtfertigt im Rahmen des § 829 BGB die Durchbrechung des Trennungsprinzips, demzufolge die Eintrittspflicht des Versicherers der Haftung folgt und nicht umgekehrt die Haftung der Versicherung. Das Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung rechtfertigt die Durchbrechung des Trennungsprinzips hingegen grundsätzlich nicht und kann daher - auch im Rahmen des § 829 BGB - jedenfalls nicht anspruchsbegründend wirken. Von einem Funktionswandel dergestalt, dass auch die freiwillige Haftpflichtversicherung nicht mehr in erster Linie dem Schutz des Versicherten, sondern dem des Geschädigten dienen würde, vermag sich der Senat nach wie vor nicht zu überzeugen. Ein gesetzlicher Direktanspruch des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer besteht, anders als bei der Pflichtversicherung (§ 115 VVG), nicht. Die Pflicht des Versicherers, den Versicherungsnehmer von begründeten Haftpflichtansprüchen Jura Intensiv Die Voraussetzungen des § 829 BGB müssen als Ausnahme zum Verschuldensprinzip hoch angesetzt werden. Erforderlich ist ein wirtschaftliches Gefälle zugunsten des Schädigers. Bestehen einer Pflichtversicherung zum Schutz des Geschädigten Unterscheidung zwischen gesetzlicher Pflichtversicherung und freiwilliger Haftpflichtversicherung: Das Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung wirkt nicht anspruchsbegründend. Denn die freiwillige Haftpflichtversicherung ist keine Pflichtversicherung gem. §§ 1 PlichtversG, 113 VVG. Deshalb gewährt sie dem Geschädigten keinen gesetzlichen Direktanspruch gegen den Schädiger aus § 115 VVG. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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