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RA Digital - 03/2017

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

142 Öffentliches Recht

142 Öffentliches Recht RA 03/2017 Beachte: Verlangt der Arbeitsauftrag in einer Klausur eine umfassende Begutachtung der Rechtslage sind nicht nur die drittschützenden Normen zu prüfen. Vielmehr ist in diesem Fall der „klassische Anfechtungsaufbau“ (EGL, formelle und materielle Rechtmäßigkeit, Rechtsverletzung) zu wählen. Erst im Prüfungspunkt „Rechtsverletzung“ ist dann auf die drittschützenden Normen einzugehen. Problem: Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtslage Vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 5.10.1965, 4 C 3.65, juris Rn 13 Umgekehrt werden Rechtsänderungen zu Lasten des Bauherrn nicht berücksichtigt (Wolff/Decker, VwGO, § 113 Rn 41f.). Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 26.9.2016, 2 B 660/16, juris Rn 27 In einer Klausur dürfte anders zu verfahren sein. Bestehen Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit des B-Plans, ist ihnen auch nachzugehen. Dass Flüchtlingsunterkünfte Anlagen für soziale Zwecke sind ist in der Respr. inzwischen geklärt (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 25.9.2015, 2 B 910/15, juris Rn 19ff.; VGH München, Beschluss vom 29.1.2014, 2 ZB 13.678, juris Rn 5). BVerwGE 82, 61, 75; Pecher, JuS 1996, 887, 888 Das OVG Münster spricht alternativ von einem „Gebietsgewährleistungsanspruch“. Problem: Sog. grenzüberschreitender Nutzungskonflikt Diese Ausführungen könnten alternativ auch vor der inhaltlichen Prüfung des § 4 BauNVO erfolgen. überwiegendes Interesse an ihrer Vollziehung. Hat dagegen der erhobene Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren offensichtlich deshalb keinen Erfolg, weil die angegriffene Baugenehmigung offensichtlich rechtmäßig ist, überwiegt das Vollzugsinteresse. Im Zusammenhang mit der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ist zu beachten, dass sich hier ein Dritter (N) gegen den an eine andere Person (B) gerichteten Verwaltungsakt wehrt. Folglich kann der Hauptsacherechtsbehelf nur Erfolg haben, wenn eine zugunsten des B drittschützende Norm verletzt ist. Als verletzte Normen kommen nur solche des Bauplanungsrechts in Betracht. Da es sich bei den umstrittenen Flüchtlingsunterkünften um bauliche Anlagen i.S.v. § 29 I BauGB handelt und diese im Bereich eines qualifizierten B-Plans liegen, richtet sich der Drittschutz nach §§ 30 I, 31 BauGB i.V.m. der BauNVO. I. Verstoß gegen § 30 I BauGB i.V.m. §§ 4, 8 BauNVO Die Flüchtlingsunterkünfte könnten gegen die Festsetzungen des maßgeblichen B-Plans verstoßen. Ursprünglich setzte der B-Plan das Gebiet als Gewerbegebiet fest, infolge einer zwischenzeitlichen Planänderung weist er es nunmehr jedoch als allgemeines Wohngebiet aus. Das wirft die Frage auf, welche Festsetzung hier maßgeblich ist. „Mit dieser Änderung hat die Antragsgegnerin die vormals als […] Gewerbegebiet festgesetzten Bereiche entlang der C. Straße nunmehr als allgemeines Wohngebiet festgesetzt, […]. Diese planungsrechtliche Situation ist vorliegend zu Grunde zu legen, weil nach gefestigter Rechtsprechung Rechtsänderungen zu Gunsten des Bauherrn auch im gerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen sind. Ebenso entspricht es ständiger Rechtsprechung, in Verfahren der vorliegenden Art, die die Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung betreffen, von der Gültigkeit der einschlägigen Bauleitpläne auszugehen. Anderes gilt nur dann, wenn der anzuwendende Bebauungsplan offensichtlich rechtswidrig ist und sich dies bereits im summarischen Verfahren ohne weiteres aufdrängt.“ Jura Intensiv Für eine Rechtswidrigkeit der Planänderung ist jedoch nichts ersichtlich. Folglich richtet sich die Zulässigkeit des Bauvorhabens nach § 4 BauNVO und nicht nach § 8 BauNVO. In einem allgemeinen Wohngebiet sind Flüchtlingsunterkünfte als Anlagen für soziale Zwecke gem. § 4 II Nr. 3 BauNVO allgemein zulässig. Folglich verstößt das umstrittene Bauvorhaben nicht gegen § 30 I BauGB i.V.m. § 4 BauNVO. Darüber hinaus kann sich N evtl. auch gar nicht auf diese Vorschriften berufen. Zwar begründen die §§ 2-14 BauNVO zwischen den Grundstückseigentümern im Bereich eines B-Plans eine bodenrechtliche Schicksalsgemeinschaft, aus der sich für jeden Grundstückseigentümer ein sog. Gebietserhaltungsanspruch ergibt; §§ 2-14 BauNVO sind damit generell drittschützend. Das Grundstück des N befindet sich jedoch in einem anderen Baugebiet, sodass er nicht Teil der Schicksalsgemeinschaft des maßgeblichen B-Plans ist. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur, wenn sich aus der Begründung des B-Plans ergibt, dass durch die Festsetzungen des B-Plans auch Eigentümer von Grundstücken geschützt werden sollen, die außerhalb des maßgeblichen B-Planbereichs liegen. Dafür ist hier aber nichts ersichtlich. Somit entfaltet § 30 I BauGB i.V.m. § 4 BauNVO zugunsten des N keine drittschützende Wirkung. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2017 Öffentliches Recht 143 II. Verstoß gegen § 15 I 2 BauNVO Möglicherweise sind die an sich zulässigen Flüchtlingsunterkünfte wegen eines Verstoßes gegen § 15 I BauNVO ausnahmsweise unzulässig. In Betracht kommt nur eine Verletzung des § 15 I 2 BauNVO. Diese Vorschrift vermittelt als gesetzliche Ausprägung des Gebots der Rücksichtnahme einen partiellen Drittschutz und erfasst damit alle Grundstückseigentümer, die durch das umstrittene Bauwerk unzumutbar belästigt oder gestört werden könnten. Ausweislich ihres Wortlauts („oder in dessen Umgebung“) schützt die Norm gebietsübergreifend. Damit kann sich auch N auf eine Verletzung des § 15 I 2 BauNVO berufen. Fraglich ist jedoch, ob die Flüchtlingsunterkünfte für ihn unzumutbare Belästigungen oder Störungen hervorrufen. „Denn sein Wohnhaus […] ist nach Aktenlage mindestens 80 m von der nächstgelegenen Unterkunft entfernt. Zwischen dem Vorhabengrundstück und dem klägerischen Grundstück befinden sich zudem mehrere bebaute und offenbar zu Wohnzwecken genutzte Grundstücke […]. Dass menschenwürdige Lebensbedingungen im Übrigen am vorgesehenen Standort für die Flüchtlinge nicht zu realisieren wären, ist schon angesichts des benachbarten Wohngebiets, in dem unter anderem der Antragsteller lebt, auszuschließen. Solche Bedenken hegt er offenbar hinsichtlich der eigenen Wohnsituation nicht. Die bemängelte „kasernenartige“ Unterbringung könnte für sich genommen bereits kaum als menschenunwürdig bezeichnet werden. […], wäre eine Belegung der 8 ca. 70 qm großen Wohnungen mit maximal 64 Personen jedenfalls dem Antragsteller gegenüber nicht rücksichtslos. Auch nur ansatzweise konkretisierte und nachvollziehbare Ausführungen zu baurechtlich bedeutsamen Auswirkungen sind dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen.“ Somit kann sich N nicht erfolgreich auf einen Verstoß gegen § 15 I 2 BauNVO berufen. Jura Intensiv III. Verstoß gegen § 246 XII 1 Nr. 1 BauGB Selbst unter Zugrundelegung des ursprünglichen B-Plans, der das maßgebliche Gebiet als Gewerbegebiet auswies, ist fraglich, ob sich N erfolgreich auf eine ihn schützende Baurechtsnorm berufen kann. Diese Überlegung führt zu der vorgelagerten Frage, aufgrund welcher Bestimmung die Flüchtlingsunterkünfte ursprünglich genehmigt wurden. Flüchtlingsunterkünfte können zwar in einem Gewerbegebiet als Anlagen für soziale Zwecke an sich ausnahmsweise gem. § 8 III Nr. 2 BauNVO zugelassen werden. Jedoch könnte ihre Errichtung in einem solchen Gebiet dem ungeschriebenen Erfordernis der Gebietsverträglichkeit widersprechen. Dessen Prüfung folgt aus dem typisierenden Ansatz der §§ 2-9 BauNVO. Diese weisen den Baugebieten jeweils im Abs. 1 eine allgemeine Zweckbestimmung zu. Ob ein Bauvorhaben gegen diese Zweckbestimmung verstößt, bestimmt sich nach den Anforderungen des Bauvorhabens an ein Gebiet, seine Auswirkungen auf ein Gebiet und der Erfüllung des spezifischen Gebietsbedarfs. Es kommt somit nicht auf die konkrete Umgebungsbebauung an, sondern darauf, ob das Bauvorhaben wegen seiner besonderen Empfindlichkeit oder seines besonderen Störpotenzials generell dem Gebietscharakter zuwiderläuft. BVerwG, NJW 1984, 138, 139; Mampel, DVBl. 2000, 1830, 1832; Pecher, JuS 1996, 887, 889 Selbst wenn die Unterbringung der Flüchtlinge menschenunwürdig wäre, ist das kein Belang, auf den sich ein Nachbar berufen kann. Denn ein Nachbar kann nur seine Interessen geltend machen. Er ist nicht „Hüter des Allgemeinwohls“ und erst recht keine „Ersatz-Bauaufsichtsbehörde“. Diese Prüfung erfolgt nur, weil N einen Verstoß gegen § 246 XII BauGB gerügt hat. Ansonsten wäre die Klausur nach der Prüfung des § 15 I BauNVO beendet, da sich § 15 I BauNVO und § 246 XII BauGB wechselseitig ausschließen. Ungeschriebenes Erfordernis der Gebietsverträglichkeit BVerwG, Urteil vom 2.2.2012, 4 C 14/10, juris Rn 16f. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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