Aufrufe
vor 7 Jahren

RA Digital - 03/2017

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

146 Öffentliches Recht

146 Öffentliches Recht RA 03/2017 Problem: Bauliche Anlagen als Teil einer Versammlung Einordnung: Versammlungsrecht/Baurecht OVG Münster, Urteil vom 07.12.2016 7 A 1668/15 LEITSÄTZE 1. Eine bauliche Anlage unterfällt lediglich dann dem besonderen Schutz des Art. 8 GG, wenn ihr eine funktionale oder symbolische Bedeutung für das Versammlungsthema zukommt und diese Art Kundgebungsmittel damit einen erkennbaren inhaltlichen Bezug zur kollektiven Meinungskundgabe aufweist. 2. Das kann auch dann der Fall sein, wenn es sich bei der baulichen Anlage um ein „gemischtes“ Element in dem Sinne handelt, dass es sowohl kommunikativen wie auch nichtkommunikativen Zwecken dient; ein solches „gemischtes“ Element genießt versammlungsrechtlichen Schutz, wenn es nach seinem Gesamtgepräge als Teil einer Versammlung anzusehen ist. 3. Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann die Bauaufsichtsbehörde im Rahmen des Anwendungsbereichs der Landesbauordnung Nordrhein- Westfalen gegen die baulichen Anlagen eines Protestcamps vorgehen, das vorrangig als Basislager für die sich dort aufhaltenden Personen und als Ausgangspunkt für in der Umgebung des Camps stattfindende Potestaktionen – hier gegen den Braunkohletagebau und für den Erhalt eines Waldes – dient. In NRW existiert insbesondere keine Spezialermächtigung für eine baurechtliche Beseitigungsanordnung. EINLEITUNG Das Urteil des OVG Münster befasst sich mit der Frage, ob auch bauliche Anlagen (hier: ein Protestcamp) vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit erfasst sein können. SACHVERHALT Seit 2012 befindet sich ein Protestcamp gegen einen Braunkohletagebau auf einem Grundstück des K in der Nähe des Hambacher Forstes im Kreis Düren (D). Das Protestcamp besteht u.a. aus Zelten, Wohn- und Bauwagen sowie Holzhütten. K hatte sein Grundstück namentlich nicht näher bezeichneten Gegnern des Braunkohletagebaus zur Verfügung gestellt. Diese verübten immer wieder gewalttätige Angriffe gegen Polizeibeamte und private Sicherheitskräfte, die den Braunkohletagebau schützen. Nach vorheriger Anhörung gab D als zuständige Bauaufsichtsbehörde dem K mit formell ordnungsgemäßem Bescheid vom 22.03.2013 auf, die auf dem Grundstück vorhandenen baulichen Anlagen zu beseitigen; außerdem verbot D dem K, dort weitere derartige Anlagen zu errichten. K hält diese Anordnungen für rechtswidrig, weil D insbesondere die Ausstrahlungswirkung des Art. 8 GG nicht beachtet habe. Das Protestcamp sei eine Versammlung i.S.v. Art. 8 GG, weil es unabdingbare Voraussetzung für den Protest gegen den Braunkohletagebau sei; das belege bereits die unmittelbare räumliche Nähe zu dem Tagebau. Sind die Anordnungen rechtmäßig? [Anm.: Es ist davon auszugehen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der maßgeblichen Ermächtigungsgrundlage vorliegen.] Jura Intensiv LÖSUNG Die Anordnungen sind rechtmäßig, wenn sie auf einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage beruhen, die formell und materiell rechtmäßig angewendet wurde. I. Ermächtigungsgrundlage für die Anordnungen Mangels spezialgesetzlicher Bestimmungen kommt als Ermächtigungsgrundlage für die Anordnungen nur die baurechtliche Generalklausel des § 61 I 2 BauO NRW in Betracht. II. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnungen Die Anordnungen müssen formell rechtmäßig sein. 1. Zuständigkeit Mit D (genauer: dem Landrat) hat die zuständige Bauaufsichtsbehörde gehandelt. Fraglich ist jedoch angesichts des Vorbringens des K, ob nicht die Versammlungsbehörde hätte tätig werden müssen. Das hängt davon ab, ob das Protestcamp als Versammlung bzw. Teil einer Versammlung i.S.d. VersammlG zu qualifizieren ist. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2017 Öffentliches Recht 147 „Eine Versammlung wird dadurch charakterisiert, dass eine Personenmehrheit durch einen gemeinsamen Zweck inhaltlich verbunden ist. […] Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 GG reicht es wegen seines Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind. Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. […] Entscheidend ist, dass die Meinungsbildung und -äußerung mit dem Ziel erfolgt, auf die Öffentlichkeit entsprechend einzuwirken. Der Schutz der Versammlungsfreiheit umfasst nicht nur das gewählte Thema der Veranstaltung, sondern auch die Entscheidung, welche Maßnahmen der Veranstalter zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit für sein Anliegen einsetzen will. Auch die Errichtung von „baulichen Anlagen“ wie das Aufstellen von Zelten, Pavillons, Sitzelementen, Ver- und Entsorgungseinrichtungen und das Schlafen am Versammlungsort kann ggf. von dem Schutzbereich des Art. 8 GG erfasst sein. Jedoch ist das Aufstellen von Zelten oder Pavillons bei Durchführung einer Versammlung nicht gleichsam automatisch als „notwendiger Bestandteil“ der Versammlung […] mit umfasst. Eine derartige bauliche Anlage stellt nur dann einen geschützten Teil der Versammlung dar, […] sofern ihr eine funktionale oder symbolische Bedeutung für das Versammlungsthema zukommt und diese Art Kundgebungsmittel damit einen erkennbaren inhaltlichen Bezug zur kollektiven Meinungskundgabe aufweist. Dieser besondere Schutz des Art. 8 GG greift […] vor allem dann, wenn es sich dabei um inhaltsbezogene Bestandteile der Versammlung handelt, ohne die die geplante gemeinsame Meinungsbildung und Meinungsäußerung nicht möglich ist. Jura Intensiv Als geschützter Teil der Versammlung kann eine solche bauliche Anlage auch dann angesehen werden, wenn es sich bei dieser um ein „gemischtes“ Element in dem Sinne handelt, dass es sowohl kommunikativen wie auch nichtkommunikativen Zwecken dient. […] Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, ist entscheidend, ob diese „gemischte“ Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist. Die Beurteilung, ob eine „gemischte“ Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung darstellt, ist im Wege einer Gesamtschau aller relevanten tatsächlichen Umstände vorzunehmen. Die Gesamtschau hat in mehreren Schritten zu erfolgen. Zunächst sind alle diejenigen Modalitäten der geplanten Veranstaltung zu erfassen, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung zielen. Abzustellen ist in erster Linie auf einen Außenstehenden, der sich zum Zeitpunkt der Veranstaltung an ihrem Ort befindet. Auf diesen Betrachter kommt es deshalb in erster Linie an, weil eine Versammlung vorrangig durch ihre Präsenz an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auf die öffentliche Meinung einwirken will. […] Daran schließt sich der zweite Schritt Definition „Versammlung“ Das Gericht begründet, warum es dem sog. engen Versammlungsbegriff folgt. Gemeint ist wohl, dass eine öffentliche Angelegenheit betroffen sein muss (so jedenfalls die gängige Formulierung beim engen Versammlungsbegriff, vgl. BVerfGE 104, 92, 104; 128, 226, 250). Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 25.7.2012, 5 B 853/12, juris Rn 2f.; VGH München, Beschluss vom 12.4.2012, 10 CS 12.767, juris Rn 10 Kernaussage: Hilfsmittel wie z.B. Zelte sind nur vom Versammlungsrecht geschützt, wenn sie einen erkennbaren Bezug zum Versammlungsthema haben. Sonderfall: „Gemischte“ Elemente einer Versammlung OVG verlangt im Falle „gemischter“ Elemente eine mehrstufige Prüfung. Es überträgt die Grundsätze, die von der Respr. für die Beurteilung eines menschlichen Verhaltens entwickelt wurden, auf bauliche Anlagen. Prüfungsschritte: 1. Schritt: Welche Modalitäten der Veranstaltung haben einen Bezug zur öffentlichen Meinungsbildung? 2. Schritt: Welche Modalitäten der Veranstaltung haben keinen Bezug zur öffentlichen Meinungsbildung? 3. Schritt: Gesamtabwägung. Maßstab: Außenstehender, der sich vor Ort befindet. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats