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RA Digital - 03/2017

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

148 Öffentliches Recht

148 Öffentliches Recht RA 03/2017 der Gesamtschau an, bei dem die nicht auf die Meinungsbildung zielenden Modalitäten der Veranstaltung zu würdigen und insgesamt zu gewichten sind. Schließlich sind - in einem dritten Schritt - die auf den ersten beiden Stufen festgestellten Gewichte der die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung betreffenden Elemente einerseits und der von diesen zu unterscheidenden Elemente andererseits zueinander in Beziehung zu setzen und aus der Sicht eines durchschnittlichen Betrachters zu vergleichen.[…] Ist ein Übergewicht des einen oder des anderen Bereichs nicht zweifelsfrei festzustellen, ist die Veranstaltung wie eine Versammlung zu behandeln. […] 1. Prüfungsschritt 2. Prüfungsschritt 3. Prüfungsschritt Das ist das entscheidende Argument. Die einzelnen Anlagen erscheinen für sich als „meinungsmäßig“ neutral. Soweit auf den in den Akten befindlichen Lichtbildern eine „Anarchistenflagge“ oder Botschaften auf Plakaten und Spruchbändern zu sehen sind, wie z. B. „REFUGEES... WELCOME“, „BRENNT DIE KNÄSTE NIEDER“, „fracking stoppen“, prägen Aussagen das Bild des Protestcamps, die in keinem spezifischen Zusammenhang zum Braunkohletagebau […] stehen. […] sind es im wesentlichen nur die Lage der baulichen Anlagen in der Nähe des I ... Forstes und im Bereich des Tagebaus, die einen ortsanwesenden Betrachter einen solchen Zusammenhang in Betracht ziehen lassen. Neben diesen von einem Außenstehenden „vor Ort“ wahrnehmbaren Umständen sind dem Blog (http://I...blogsport.de/) verschiedene Einträge […] zu entnehmen, die sich teilweise auch auf das Wiesencamp beziehen. Ebenso existieren zahlreiche Presseartikel über das Protestcamp. […] Das Protestcamp dient der Unterbringung und Versorgung der sich dort aufhaltenden Personen und als deren Treffpunkt. Es gab bzw. gibt z. B. Zelte und Bauwagen, die der Übernachtung dienen, eine Küche, eine Bibliothek, eine Kleiderkammer, Gemeinschaftsräume und sonstige Infrastruktur. Die baulichen Anlagen des Protestcamps dienen auf dem ansonsten offenen Gelände zunächst dem Schutz der Bewohner vor Witterungseinflüssen. Sie ermöglichen den längerfristigen Aufenthalt auf dem Grundstück. Ebenso werden die baulichen Anlagen zum Teil zur Lagerung unterschiedlicher Dinge sowie als „Tagungsstätte „genutzt. […] Jura Intensiv Die baulichen Anlagen dienen den Aktivisten des Protestcamps nach ihrem Gesamtgepräge vorrangig als Basislager für die in der Umgebung des Protestcamps stattfindenden Protestaktionen im Bereich des I. Forstes. Es geht maßgeblich um die Schaffung einer Infrastruktur für die Protestbewegung. Das Camp stellt die Logistik für den außerhalb desselben - insbesondere im I. ... Forst - stattfindenden Protest dar, ist aber selbst nicht prägender Bestandteil dieser Meinungskundgaben. Die Infrastruktureinrichtungen des Protestcamps könnten auch auf einem anderen Grundstück vorgehalten werden, wie z. B. auf einem innerhalb der Ortschaft N. ... liegenden Grundstück.“ Demnach ist das Protestcamp nicht als Teil einer Versammlung zu qualifizieren, sodass für die umstrittenen Anordnungen nicht die Versammlungsbehörde, sondern die hier tätig gewordene Bauaufsichtsbehörde zuständig ist. 2. Verfahren und Form Verfahrens- oder Formfehler liegen nicht vor. Die Anordnungen sind somit formell rechtmäßig. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2017 Öffentliches Recht 149 III. Materielle Rechtmäßigkeit der Anordnungen Der Tatbestand des § 61 I 2 BauO NRW ist erfüllt. Fraglich ist nur, ob die Bauaufsichtsbehörde das ihr durch die Norm eröffnete Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. „[…] Soweit der Kläger geltend macht, der angefochtene Bescheid sei deshalb ermessensfehlerhaft, weil die Ordnungsverfügung mit Blick auf den Gesichtspunkt des Art. 8 GG ohne jede Ermessensbetätigung ergangen sei und es sich insoweit bei dem Schriftsatz vom 4.11.2014 um eine „erstmalige“ Ausübung des Ermessens handele, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Aus obigen Gründen unterfällt das Protestcamp nicht dem Schutz des Art. 8 GG. […] Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Schutzbereich des Art. 8 GG die in Rede stehenden Anlagen selbst dann nicht erfassen würde, wenn sie Teil einer Versammlung wären, weil es an den Merkmalen der Friedlichkeit und Unbewaffnetheit des Protestcamps fehlt. […] […] Nach den aktenkundigen Angaben der Polizei sind im Umfeld des Protestcamps zahlreiche Gewalt- und Straftaten zu verzeichnen. Nach der von der Polizei gefertigten und von dem Beklagten eingereichten Auflistung gab es allein in diesem Jahr bis Anfang August bereits 42 im Zusammenhang mit dem Protestcamp stehende Vorgänge, wie z. B. Steinwürfe, Zwillenbeschuss, Bewurf eines Polizeiwagens mit einem Molotowcocktail. Bei der […] Durchsuchung des […] Protestcamps fand die Polizei zahlreiche als Waffen verwendbare Gegenstände, wie z. B. mehrere Zwillen mit Munition, eine Steinschleuder, „Krähenfüße“, Golfbälle und mit Steinen gefüllte Socken sowie geflexte Eisenkrampen. Den beigezogenen Ermittlungsakten ist zu entnehmen, dass die im Umfeld des Protestcamps […] durchgeführten Angriffe auf das Sicherheitspersonal von S. und auf Polizeibeamte teilweise mit derartigen Gegenständen durchgeführt worden sind. Nach der Strafanzeige vom 2.3.2016 zum Aktenzeichen 609000-007735-16/6 flüchteten die Täter in das Wiesencamp und konnten dort untertauchen.“ Jura Intensiv Anderweitige Ermessensfehler sind nicht ersichtlich, sodass die umstrittenen Anordnungen auch materiell rechtmäßig sind. Der Tatbestand ist eindeutig erfüllt. Bei dem Protestcamp handelt es sich um bauliche Anlagen, die zum einen nicht genehmigt sind und zum anderen im Außenbereich gem. § 35 BauGB auch nicht genehmigungsfähig sind. Das Protestcamp ist damit formell und materiell illegal. Da die Bewohner unbekannt sind, richten sich die behördlichen Anordnungen auch zu Recht gegen den Grundstückseigentümer K. Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen Art. 8 GG und dem VersammlG: Das VersammlG ist im Gegensatz zu Art. 8 GG auch anwendbar, wenn die Teilnehmer unfriedlich sind und/oder Waffen mit sich führen. Deshalb hat das OVG diese Merkmale auch nicht bereits oben in der Zuständigkeit diskutiert. Denn an der Anwendung des VersammlG und der daraus folgenden Zuständigkeit der Versammlungsbehörde hätte dies nichts geändert. Selbst wenn der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit eröffnet wäre, hätte dies nicht zwingend zur Folge, dass die baurechtlichen Anordnungen rechtswidrig sind. Es müsste vielmehr eine Abwägung zwischen der Versammlungsfreiheit und den gegenläufigen öffentlichen Interessen erfolgen. FAZIT Das Verhältnis des VersammlG zum Polizei- und Straßenrecht ist häufig Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen, eine Kollision mit dem Baurecht hingegen selten. Deshalb hatte die RA auch schon über die erstinstanzliche Eilentscheidung des VG Aachen berichtet. Die Ausführungen des OVG zu der für das Verhältnis Baurecht •• VersammlG entscheidenden Frage, ob eine bauliche Anlage Teil der Versammlung ist, sind rechtsgrundsätzlich und durchaus überzeugend. Der Prüfungsstandort hingegen verwundert. Nahe liegender ist es, diesem Problem innerhalb der Ermächtigungsgrundlage nachzugehen (Stichwort: Sperrwirkung des VersammlG). Ebenfalls nicht restlos überzeugend sind die knappen Ausführungen zum Versammlungsbegriff, die die Gegenauffassungen überhaupt nicht erwähnen. VG Aachen, Beschluss vom 3.7.2013, 5 L 193/13, RA 2013, 734 Siehe dazu Pieroth/Schlink/ Kingreen/ Poscher, Grundrechte, Rn 772-776 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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