Aufrufe
vor 7 Jahren

RA Digital - 03/2017

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

156 Referendarteil:

156 Referendarteil: Öffentliches Recht RA 03/2017 Erforderlichkeit Angemessenheit Zwangsmedikation und Zwangsbehandlung nicht zurechenbar und daher nicht zu prüfen Die Abwendung der Gefahr für das Leben der Klägerin war auch nicht anders möglich als durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Eine Anordnung gegenüber der Klägerin, das Bett bis zum Eintreffen des Amtsarztes nicht zu verlassen, konnte nicht mehr rechtzeitig ergehen, da die Klägerin sich bereits den Bemühungen des Klinikpersonals, sie in ihr Bett zu verbringen, widersetzte. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Beamten den Rahmen des rechtlich Möglichen überschritten hätten. Nach § 251 Abs. 2 LVwG ist unmittelbarer Zwang jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen. Nach den Schilderungen der Klägerin und der Beklagten, sei die Klägerin von dem Pfleger, dem Stationsarzt und den beiden Polizeibeamten festgehalten, in das Bett verbracht und gefesselt worden. Es ist nicht ersichtlich, dass die Polizeibeamten Gewalt angewendet haben, die über das Ziel, die Klägerin im Bett zu fixieren, hinausging. Angesichts der im Raum stehenden Lebensgefahr für die Klägerin erscheint das gewaltsame Festhalten und Verbringen in das Krankenbett auch nicht als unangemessen. Eine Feststellung der Rechtswidrigkeit der Zwangsmedikation bzw. Zwangsbehandlung kann im Rahmen dieses Verfahrens nicht erfolgen. Streitgegenstand sind im vorliegenden Verfahren gegen das Land Schleswig- Holstein Handlungen der Polizeibeamten. Aus dem klägerischen Vortrag ergibt sich nicht, dass die Polizeibeamten an einer Zwangsmedikation oder einer Zwangsbehandlung der Klägerin über die oben dargelegte Anwendung unmittelbaren Zwanges hinausgehend beteiligt gewesen seien. Dafür ist auch nichts ersichtlich. Die vorgenommenen Behandlungsmaßnahmen können den Polizeibeamten auch nicht zugerechnet werden, da sie nicht auf deren Entschluss zurückzuführen sind, sondern in eigener Verantwortung des Klinikpersonals erfolgten. [...]“ FAZIT Fälle aus dem Polizeirecht werden im zweiten Staatsexamen häufig geprüft. Nicht selten sind hierbei Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen; eine Thematik die bereits im Studium umfassend behandelt wird und den Examenskandidaten regelmäßig auch gut bekannt sein dürfte. Gerade hierin liegt die Gefahr, wenn bekannte Probleme (hier: Anwendung unmittelbaren Zwangs) in einem anderen Gewand (hier der Amtshilfe) auftauchen und anderen Rechtmäßigkeitsmaßstäben folgen. Die Entscheidung des VG Schleswig ist hierfür ein exzellentes Beispiel. Sie verdeutlicht, wie wichtig eine genaue Identifikation der Streitgegenstände und eine umfassende Auswertung des Sachverhalts ist. Nur so lässt es sich vermeiden, einen Fall irrigerweise bekannten Problemfeldern und Prüfungsschemata zuzuordnen. Durch die Einbettung in eine Feststellungsklage bei bereits erledigten Maßnahmen ist das Urteil des VG Schleswig zudem auch in prozessualer Hinsicht sehr lehrreich. Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2017 STRAFRECHT Strafrecht 157 Problem: Garantenpflicht trotz Selbstgefährdung Einordnung: StrafR AT/Unterlassen BGH, Urteil vom 24.11.2016 4 StR 289/16 EINLEITUNG Im vorliegenden Urteil führt der BGH aus, dass die Pflicht eines Garanten zur Hilfeleistung nicht deshalb entfällt, weil das Opfer sich eigenverantwortlich selbst gefährdet. Dies gilt zumindest ab dem Zeitpunkt, ab dem das Opfer (insb. als Folge einer Bewusstlosigkeit oder anderweitigen Handlungsunfähigkeit) nicht mehr in der Lage ist, sich selbst vor Schäden zu schützen. SACHVERHALT Der Angeklagte A war mit der Nebenklägerin N seit 2007 verheiratet. Nachdem die Ehe zunächst harmonisch verlaufen war, kam es 2008/2009 zu ersten Problemen. N nahm stark ab. Im März 2012 gebar sie ihr zweites Kind. In der Folge zog sich A, der sich überfordert fühlte, immer mehr zurück. N verlor weiter an Gewicht und wog im Mai 2012 bei 157 cm Größe lediglich 48 kg. Auch in den Folgemonaten nahm N weiter ab. A bemerkte dies, kümmerte sich aber nicht weiter um N. Schließlich lebten A und N nur noch nebeneinander her. Am Morgen des 02.05.2013 verließ A das Haus und fuhr zur Arbeit. Um den gesundheitlichen Zustand der N kümmerte er sich nicht weiter, obwohl er gesehen hatte, dass es ihr schlecht ging und sie sehr schwach war. Tatsächlich war ihre Blutzuckerkonzentration bereits unter den aus medizinischer Sicht kritischen Wert vom 50 mg/dl gesunken, ihr Blutdruck war sehr niedrig, der Herzschlag war verlangsamt und die Körpertemperatur war erheblich abgesunken. A, der gegen 15.20 Uhr nach Hause kam, bemerkte den gegenüber dem Morgen deutlich verschlechterten Zustand der N und erkannte, dass sie dringend ärztlicher Hilfe bedurfte. Er unternahm jedoch nichts, sondern befasste sich bis 19.34 Uhr mit einem Computerspiel. Als er danach ins Wohnzimmer zurückkehrte, lag N auf dem Sofa und fror. A deckte sie zu und erkannte, dass „die Lage ernst“ war, verdrängte diesen Gedanken jedoch, setzte sich neben N auf das Sofa und sah fern. Hierbei bemerkte er die Kälte, die von N, deren Körpertemperatur inzwischen auf ca. 33 Grad Celsius gesunken war, ausging. Er unternahm aber auch weiterhin nichts, sondern legte sich neben N, um am kommenden Tag ausgeschlafen zu sein. Jura Intensiv LEITSÄTZE (DER REDAKTION) 1. Wer eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit strafbarer Vorgang ist. 2. Eine Erfolgsabwendungspflicht des Garanten besteht auch bei einer eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers in dem Zeitpunkt, in dem aus dem allgemeinen Risiko eine besondere Gefahrenlage erwächst. 3. An diesen Grundsätzen ist jedenfalls dann festzuhalten, wenn das Verhalten des Opfers sich in Bezug auf das Rechtsgut Leben und Gesundheit in einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung erschöpft und keine gezielte Selbsttötung gewollt ist. Gegen 2 Uhr wachte A auf, holte N eine neue Decke und deckte sie zu. Hierbei berührte er sie erneut und spürte abermals die von ihr ausgehende „Leichenkälte“. Er bemerkte ferner, dass sie nur noch apathisch auf dem Sofa lag, kaum noch Kraft hatte, sich zu bewegen, und auf Ansprache kaum mehr reagierte. Spätestens jetzt erkannte er, dass sich N in Lebensgefahr befand. Gleichwohl unternahm er auch weiterhin nichts, obwohl ihm bewusst war, dass er als Ehemann Verantwortung für die N trug und verpflichtet war, ihr zu helfen. Ihm kam es vielmehr darauf an, in Ruhe weiterschlafen zu können. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats