158 Strafrecht RA 03/2017 Gegen 6 Uhr wachte A erneut auf. N hatte sich erbrochen und war nicht mehr ansprechbar; ihre Augen waren starr und ihre Pupillen reagierten – wie A erkannte – nicht mehr. Daraufhin verständigte A den Notarzt. Aus medizinischer Sicht war zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, dass das Leben der N gerettet werden kann. Tatsächlich stabilisierte sich ihr Zustand nach und nach, auch nahm sie wieder zu. Hat A sich wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 223 I, 224 I Nr. 5, 13 StGB, strafbar gemacht? PRÜFUNGSSCHEMA: KÖRPERVERLETZUNG DURCH UNTERLASSEN, §§ 223 I, 13 StGB Körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Integrität des Opfers nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen Zustands. A. Tatbestand I. Körperliche Misshandlung/Gesundheitsschädigung II. Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung gebotenen Handlung III. Physisch-reale Möglichkeit der Handlungsvornahme IV. Hypothetische Kausalität II. – I. V. Garantenstellung und –pflicht VI. Entsprechungsklausel, § 13 I a.E. VII. Vorsatz B. Rechtswidrigkeit und Schuld C. Strafantrag, § 230 StGB LÖSUNG Dadurch, dass er in der Nacht vom 02. auf den 03.05.2013 nicht schon früher einen Notarzt verständigte, könnte A sich wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 5, 13 StGB strafbar gemacht haben. I. Tatbestand 1. Grunddelikt: §§ 223 I, 13 StGB Jura Intensiv a) Körperliche Misshandlung/Gesundheitsschädigung Zunächst müsste der tatbestandliche Erfolg des § 223 I, also eine körperliche Misshandlung und/oder Gesundheitsschädigung der N, eingetreten sein. Dies ist durch die Unterkühlung und starke Schwächung der N der Fall. b) Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung gebotenen Handlung Zur Abwendung dieses Erfolges wäre es seitens A geboten gewesen, früher einen Notarzt zu rufen. Diese Handlung hat A jedoch nicht vorgenommen. c) Physisch-reale Möglichkeit der Handlungsvornahme Es wäre A physisch-real möglich gewesen, den Notarzt auch schon früher zu verständigen. d) Hypothetische Kausalität b) – a) Hätte A die gebotene Handlung vorgenommen, wäre der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten. Somit ist auch die erforderliche hypothetische Kausalität gegeben. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 03/2017 Strafrecht 159 e) Garantenstellung und –pflicht A müsste rechtlich dafür einzustehen haben, dass der Erfolg nicht eintritt, § 13 I StGB, d.h. er müsste eine Garantenstellung und Garantenpflicht zur Verhinderung des Erfolgs besessen haben. „[22] aa) Zwar unterfällt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit strafbarer Vorgang ist. [23] bb) Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung ihres Lebens oder ihrer Gesundheit durch die Nebenklägerin schloss hier jedoch die Garantenpflicht des Angeklagten zur Abwendung der (zumindest) lebensgefährlichen Gesundheitsschädigung der Nebenklägerin nicht aus. [24] (1) Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden, dass die Erfolgsabwendungspflicht eines Garanten nicht stets schon dann entfällt, wenn sein Verhalten zunächst lediglich eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung derjenigen Person ermöglicht, für dessen Rechtsgut bzw. Rechtsgüter er als Garant rechtlich im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB einzustehen hat. Die Straflosigkeit des auf die Herbeiführung des Risikos gerichteten Verhaltens ändert nichts daran, dass für den Täter Garantenpflichten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem aus dem allgemeinen Risiko eine besondere Gefahrenlage erwächst. Mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage ist der Täter verpflichtet, den drohenden Erfolg abzuwenden. Jura Intensiv [25] (2) An diesen Grundsätzen ist jedenfalls dann festzuhalten, wenn das Verhalten des Opfers sich in Bezug auf das Rechtsgut Leben und Gesundheit in einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung erschöpft. In diesen Fällen bleibt zwar die Beteiligung an der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung für einen Garanten an sich straffrei, bei Realisierung des von dem betroffenen Rechtsgutsinhaber eingegangenen Risikos besteht indes eine strafbewehrte Erfolgsabwendungspflicht aus § 13 Abs. 1 StGB. Denn anders als in den Selbsttötungsfällen erschöpft sich im Fall der Selbstgefährdung die Preisgabe des eigenen Rechtsguts gerade darin, dieses in einem vom Betroffenen jedenfalls in seinem wesentlichen Grad zutreffend erkannten Umfang einem Risiko auszusetzen. Eine Hinnahme des als möglich erkannten Erfolgseintritts bei Realisierung des eingegangenen Risikos ist mit der Vornahme der Selbstgefährdung indes nicht notwendig verbunden. Entwickelt sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen daher erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts, umfasst die ursprüngliche Entscheidung des Rechtsgutsinhabers für die (bloße) Gefährdung seines Rechtsguts nicht zugleich den Verzicht auf Maßnahmen zum Erhalt des nunmehr in einen Zustand konkreter Gefahr geratenen Rechtsguts. Eine Person, die nach den allgemeinen Grundsätzen des Auch wenn manche Quellen die Begriffe Garantenstellung und –pflicht synonym verwenden, ist u.U. zu differenzieren: Garantenstellung ist eine Position, die den Täter zum Schutz eines Rechtsgutes verpflichtet, Garantenpflicht die sich aus dieser Stellung ergebende konkrete Handlungspflicht. Das Problem des vorliegenden Falles sollte nicht mit der Fragestellung verwechselt werden, ob durch die Veranlassung oder Förderung einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung eine Garantenstellung (aus Ingerenz) entsteht. Hier lässt sich zum einen nicht feststellen, ob A die gefährliche Essstörung der N gefördert hat; zum anderen hat A als Ehemann der N sowieso (aus § 1353 I BGB) eine Garantenstellung. Allerdings können durchaus beide Problemkonstellationen in einem Sachverhalt auftreten. BGH, Beschluss vom 05.08.2015, 1 StR 328/15, NStZ 2016, 406 Konstellationen wie im vorliegenden Urteil können natürlich nicht nur im Falle einer Essstörung gegeben sein, sondern auch in anderen Fällen selbstgefährdenden Opferverhaltens wie etwa beim Konsum gefährlicher Drogen oder riskanten Freizeitaktivitäten wie etwa „S-Bahn- Surfen“ oder Ex tremsportarten. Der BGH deutet hier an, dass eine entsprechende Handlungspflicht des Garanten u.U. nicht besteht, wenn das Ziel des Opferverhaltens von vorneherein eine Selbstverletzung und nicht nur –gefährdung war, also insb. beim eigenverantwortlichen Suizid. Eine solche hatte der BGH allerdings früher zumindest dann angenommen, wenn der Suizident die Tatherrschaft verliert (BGH, Urteil vom 04.07.1984, 3 StR 96/84, NJW 1984, 2639, a.A.: StA München I, Verfügung vom 30.07.2010, 125 Js 11736/09, RA 2011, 439, 441 f.). © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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