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RA Digital - 03/2021

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148 Öffentliches Recht

148 Öffentliches Recht RA 03/2021 Problem: Kopftuchverbot für Rechtsreferendarin – Fortsetzungsfeststellungsinteresse Einordnung: Verwaltungsprozessrecht BVerwG, Urteil vom 12.11.2020 2 C 5.19 LEITSATZ Ein für das Rechtsreferendariat ausgesprochenes Kopftuchverbot, das typischerweise nur für einige Monate einen Anwendungsbereich hat, ist auch nach seiner Erledigung gerichtlich angreifbar; das für die Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche besondere Feststellungsinteresse ergibt sich aus der Fallgruppe des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs. VG Augsburg, Urteil vom 30.6.2016, VG Au 2 K 15.457 VGH München, Urteil vom 7.3.2018, VGH 3 BV 16.2040, RA 2018, 319 Das BVerwG hat sich nur auf diese Fallgruppe konzentriert. In einer Klausur sind hingegen stets alle Fallgruppen anzusprechen, die ernsthaft in Betracht kommen. EINLEITUNG Es geht um die Zulässigkeitsvoraussetzung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage (FFK). Das BVerwG zeigt in seinem Urteil, dass an die examensrelevante Fallgruppe des erheblichen Grundrechtseingriffs, der sich typischerweise kurzfristig erledigt, keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. SACHVERHALT Die Klägerin ist muslimischen Glaubens und trägt als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung ein Kopftuch. Im September 2014 wurde sie in Bayern zum juristischen Vorbereitungsdienst mit der Auflage zugelassen, dass „bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung (z.B. Wahrnehmung des staatsanwaltlichen Sitzungsdienstes, Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen in der Zivilstation) keine Kleidungsstücke, Symbole und andere Merkmale getragen werden dürfen, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die religiös-weltanschauliche Neutralität der Dienstausübung zu beeinträchtigen.“ Der Widerspruch der Klägerin gegen die Auflage blieb erfolglos. Nach der Klageerhebung hob der Beklagte die Auflage auf, weil die Strafrechtsstation mittlerweile beendet und die Auflage daher nicht mehr erforderlich sei. Daraufhin beantragte die Klägerin festzustellen, dass die Auflage rechtswidrig gewesen ist. Hiermit war sie erstinstanzlich erfolgreich, unterlag aber in der zweiten Instanz. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Klage mangels Feststellungsinteresses unzulässig. Insbesondere liege zwar ein Grundrechtseingriff vor; dieser sei aber nicht tiefgreifend und habe sich auch nicht typischerweise kurzfristig erledigt. Weist die Klägerin das erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse auf? Jura Intensiv LÖSUNG § 113 I 4 VwGO verlangt, dass die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsaktes hat. Dieses Fortsetzungsfeststellungsinteresse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein und sich aus den Gesichtspunkten der konkreten Wiederholungsgefahr, der Rehabilitierung, der schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung sowie der Präjudizwirkung ergeben. Hier kommt ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht aus Art. 4 I, II GG in Betracht. „[15] Bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen ist im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2021 Öffentliches Recht 149 [17] Das erforderliche Feststellungsinteresse fehlt nicht deshalb, weil der Beklagte die Auflage selbst aufgehoben hat. Der Beklagte hat seinen Bekundungen nach die streitbefangene Auflage nicht wegen einer veränderten Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit, sondern wegen ihrer Entbehrlichkeit in den weiteren Ausbildungsstationen aufgehoben; er hält die Auflage unverändert für rechtmäßig. [18] Das streitgegenständliche Verbot greift, auch wenn es […] auf die Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung bezogen und hierauf beschränkt ist, in das Grundrecht der Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, ein. Dieser Eingriff wiegt schwer, fordert er doch von der Adressatin ein Handeln unter Verstoß gegen ein von ihr für sich als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot. Dies gilt unabhängig von der Anzahl der Fälle, in denen sich ein solches Verbot aktualisiert. [19] Die Aufhebung der Auflage durch den Beklagten […] stellt keine untypische frühzeitige Erledigung dar, die der Bejahung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses entgegensteht. Denn der Zeitraum, für den sich die Auflage Geltung beimaß, war zu kurz, um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in der Hauptsache zu erlangen. [20] Zwar war die Auflage ihrem Wortlaut nach nicht auf die Zivilrechts- und die Strafrechtsstation beschränkt, sondern erstreckte sich auf das gesamte Referendariat und erfasste Tätigkeiten in der Zivilrechts- und der Strafrechtsstation nur beispielhaft („insbesondere“). Allerdings hatte sie außerhalb der Zivilrechts- und der Strafrechtsstation typischerweise keinen Anwendungsbereich. Im Fall der Klägerin beschränkte sich ihr Anwendungsbereich sogar nur auf die Zivilrechtsstation. Denn im Zulassungsbescheid für den Vorbereitungsdienst wurde die Klägerin für die Strafrechtsstation einem Gericht zugewiesen. § 10 GVG schließt aber für Strafsachen ausdrücklich aus, dass Referendare Verfahrensbeteiligte anhören, Beweise erheben und die mündliche Verhandlung leiten. Es kann nicht angenommen werden, dass der hiernach verbleibende Zeitraum zur Erlangung verwaltungsgerichtlichen Hauptsacherechtsschutzes gegen die Auflage ausreichend war, zumal auch der Zeitraum für ein der Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage vorausgehendes Widerspruchsverfahren in die Betrachtung einzubeziehen ist. Dem steht nicht entgegen, dass im streitgegenständlichen Zeitraum der Geltungsdauer der Auflage im beklagten Freistaat die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens nicht zwingend, sondern nur fakultativ vorgesehen war. Denn wenn ein Bürger die Erhebung einer gerichtlichen Klage gegen eine ihn beschwerende Verwaltungsentscheidung möglicherweise durch die gesetzlich geregelte vorgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit dieser Verwaltungsentscheidung vermeiden kann, muss er eine solche normativ vorgesehene Möglichkeit auch tatsächlich wahrnehmen können.“ Jura Intensiv Aufhebung der Auflage durch den Beklagten ändert nichts, da er an seiner Rechtsansicht festhält. Anzahl der Grundrechtseingriffe ist unerheblich (tatsächlich war die Klägerin wegen ihres Kopftuchs nur in einem Fall von der Ausbildungsrichterin schlechter behandelt worden als eine Mitreferendarin) Typischerweise kurzfristige Erledigung (+) Auflage galt formal zwar für das gesamte Referendariat, praktisch aber nur für die Zivilstation. Es kann nicht zur Verneinung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses führen, wenn die Klägerin ein fakultatives Widerspruchsverfahren durchführt, statt direkt Klage zu erheben. Demnach weist die Klägerin das erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse auf. FAZIT Die Kritik, die in der „RA“ am Urteil des Berufungsgerichts geübt worden war, hat sich das BVerwG zu eigen gemacht; die Anforderungen an die Fallgruppe des erheblichen Grundrechtseingriffs dürfen nicht überspannt werden. Das BVerwG hat der Klage im Übrigen auch inhaltlich stattgegeben, weil es zum maßgeblichen Zeitpunkt an einer detaillierten parlamentarischen Grundlage für das ausgesprochene Verbot fehlte. RA 2018, 319, 322 Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 14.1.2020, 2 BvR 1333/17, RA 2020, 203 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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