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RA Digital - 03/2022

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144 Öffentliches Recht

144 Öffentliches Recht RA 03/2022 Entscheidendes Kriterium bei einer Triage: Aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit Grds. keine Pflicht für den Gesetzgeber, ganz bestimmte Maßnahmen ergreifen zu müssen, um seiner Schutzpflicht nachzukommen. Ausnahme kann sich insbesondere aus der Eigenart des Sachbereichs und der Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter ergeben. Gesichtspunkte, die gegen eine Pflicht sprechen, ganz bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. [123] Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befinden sich im Fall einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation. Sie müssen entscheiden, wem die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen zukommen sollen und wem nicht. In dieser Situation kann es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung die notwendige medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Das gelingt nur, wenn sichergestellt ist, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird. [124] Dafür genügt das allgemeine zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in § 1 AGG nicht; insofern ist bereits nicht klar geregelt, ob es auf die Situation der Triage überhaupt Anwendung findet. Ebenso wenig finden sich hinreichende Vorgaben zum Benachteiligungsschutz im öffentlichen Recht. […]“ Demnach hat der Gesetzgeber seine aus Art. 3 III 2 GG resultierende Schutzpflicht verletzt. III. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Erfüllung der Schutzpflicht Möglicherweise lassen sich aus Art. 3 III 2 GG detaillierte Vorgaben ableiten, wie der Gesetzgeber seine Schutzpflicht zu erfüllen hat. [99] Dem Gesetzgeber steht bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungsund Gestaltungsspielraum zu. Dessen Umfang hängt von verschiedenen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter. Aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht folgt in der Regel keine bestimmte Handlungsvorgabe. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers kann sich nur unter besonderen Umständen so verengen, dass allein durch eine bestimmte Maßnahme dem Schutzgebot Genüge getan werden kann. Innerhalb seines Spielraums kann sich der Gesetzgeber für Regelungen des materiellen Rechts ebenso entscheiden wie für solche des Verfahrensrechts, soweit dies für einen effektiven Grundrechtsschutz erforderlich ist. Jura Intensiv [127] […] Dabei hat der Gesetzgeber auch zu berücksichtigen, dass die für die Behandlung zur Verfügung stehenden begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zusätzlich in einer Weise belastet werden, dass das letztendlich angestrebte Ziel, Leben und Gesundheit von Patientinnen und Patienten mit Behinderungen wirkungsvoll zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde. Gleiches gilt im Hinblick auf die durch den Gesetzgeber zu beachtenden Schutzpflichten für das Leben und die Gesundheit der anderen Patientinnen und Patienten. Hierbei hat der Gesetzgeber die Sachgesetzlichkeiten der klinischen Praxis, etwa die aus medizinischen Gründen gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen, ebenso zu achten wie die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall, die in deren besonderer Fachkompetenz und klinischer Erfahrung begründet liegt. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 03/2022 Öffentliches Recht 145 [128] Innerhalb dieses Rahmens hat der Gesetzgeber selbst zu entscheiden, ob er Vorgaben zu den Kriterien von Verteilungsentscheidungen macht. Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, steht einer Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden, nicht von vornherein entgegen; ein Kriterium, das den inhaltlichen Anforderungen der Verfassung genügt, kann vom Gesetzgeber vorgegeben werden. Der Gesetzgeber kann auch Vorgaben zum Verfahren machen. Sofern dies nach Einschätzung des Gesetzgebers wirksamen Grundrechtsschutz verspricht, kann er sich für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder für Vorgaben zur Dokumentation entscheiden. Denkbar sind auch Regelungen zur Unterstützung vor Ort. Dazu kommt die Möglichkeit spezifischer Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage- Situation hinzuwirken. Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind.“ Somit hat der Gesetzgeber dadurch gegen Art. 3 III 2 GG verstoßen, dass er für den Fall einer Triage im Laufe der Coronavirus-Pandemie nichts unternommen hat, um eine Benachteiligung wegen einer Behinderung zu verhindern. FAZIT Examensrelevant an der Entscheidung ist zum einen der abweichende Prüfungsaufbau, weil es nicht um ein staatliches Handeln, sondern um ein Unterlassen geht. Der „klassische Aufbau“ (Ungleichbehandlung und Rechtfertigung) dürfte zwar nicht falsch sein, ist hier aber nur schwer anzuwenden. Zum anderen sind die Ausführungen des BVerfG zu den unterschiedlichen Schutzwirkungen des Art. 3 III 2 GG bedeutsam. Hier knüpft das Gericht an eine andere wichtige Entscheidung an, die es vor etwa zwei Jahren gefällt hat. Der Beschluss zeigt weiterhin anschaulich, dass sich der gesetzgeberische Entscheidungsspielraum nur in ganz seltenen Fällen auf null reduziert, sodass in der Regel kein konkretes gesetzgeberisches Handeln verlangt werden kann. Das BVerfG hat im Übrigen auch umfassend die internationale Rechtslage referiert (insbesondere die EMRK und Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen), daraus aber keine Verpflichtungen ableiten können, die über diejenigen des Grundgesetzes hinausgehen. In der Literatur ist bereits zum Teil heftige Kritik an den Ausführungen des BVerfG geübt worden, weil das Gericht dem Gesetzgeber keine genaueren Vorgaben gemacht habe, wie er die Triage zu regeln hat, und ein Abstellen auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit zu einer mittelbaren Diskriminierung behinderter Menschen führen würde. Jura Intensiv Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers Wichtig: Gesetzliche Vorgaben für Triage verstoßen nicht von vornherein gegen Art. 1 I 1 GG. Mögliche gesetzliche Vorgaben für das Verfahren der Triage. Evtl. Regelungen im Aus- und Weiterbildungsrecht, um eine Benachteiligung wegen einer Behinderung bei einer Triage zu verhindern. BVerfG, Beschluss vom 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, RA 2020, 309 Rn 100-107 der Entscheidung Vgl. nur Kranz/Ritter, NVwZ 2022, 133; Walter, NJW 2022, 363 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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