192 Referendarteil: Zivilrecht RA 04/2017 worden sind, und somit auch, wenn sie auf mündlichen Erklärungen beruhen. Das gilt selbst dann, wenn durch eine AGB-Schriftformklausel bestimmt wird, dass mündliche Abreden unwirksam sind. AGB-rechtliche Überlegungen: Der Vorrang der Individualabrede gilt auch gegenüber einer doppelten Schriftformklausel in AGB. Hier liegen die Erwägungen wieder auf einer anderen Ebene, nämlich der des § 550 BGB. Da die mündlichen Änderungen – des Vertragszwecks – trotz Verstoßes gegen das Schriftformerfordernis - wirksam waren, hätten sie nach § 550 BGB bei der Befristung des Vertrags schriftlich niedergelegt werden müssen. Dies ist der entscheidende Punkt im Beschluss des BGH. BGH, Urteil vom 29.03.2000, XII ZR 316/97 II.4.b) bb) Zwischen einfacher und doppelter Schriftformklausel sind insoweit keine maßgeblichen Unterschiede erkennbar. Der Vorrang der Individualvereinbarung muss bei beiden auch dann gewahrt bleiben, wenn man ein Interesse des Verwenders anerkennt, einem langfristigen Mietvertrag nicht durch nachträgliche mündliche Abreden die Schriftform zu nehmen, und deshalb eine solche Klausel ausnahmsweise als wirksam ansieht. Das gebieten Sinn und Zweck des § 305b BGB, wonach vertragliche Vereinbarungen, die die Parteien für den Einzelfall getroffen haben, nicht durch davon abweichende Allgemeine Geschäftsbedingungen durchkreuzt, ausgehöhlt oder ganz oder teilweise zunichte gemacht werden können. Die Vorschrift beruht auf der Überlegung, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen als generelle Richtlinien für eine Vielzahl von Verträgen abstrakt vorformuliert und daher von vornherein auf Ergänzung durch die individuelle Einigung der Parteien ausgelegt sind. Sie können und sollen nur insoweit Geltung beanspruchen, als die von den Parteien getroffene Individualabrede dafür Raum lässt. Vereinbaren die Parteien - wenn auch nur mündlich - etwas anderes, so kommt dem der Vorrang zu. II.4.b) bb) Das Interesse des Klauselverwenders oder gar beider Vertragsparteien, nicht durch nachträgliche mündliche Absprachen die langfristige beiderseitige Bindung zu gefährden, muss gegenüber dem von den Parteien später übereinstimmend Gewollten zurücktreten. Es kommt - anders als bei einer individuell vereinbarten doppelten Schriftformklausel - auch nicht darauf an, ob die Parteien bei ihrer mündlichen Absprache an die entgegenstehende Klausel gedacht haben und sich bewusst über sie hinwegsetzen wollten.“ Bei Bejahung des Schriftformverstoßes ist das zwischen den Parteien bestehende Mietvertragsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 09.02.2015 mit Ablauf des 31.12.2015 beendet worden. Grundsätzlich gälte die gesetzliche Kündigungsfrist des § 580a II BGB. § 550 S. 2 BGB bestimmt jedoch, dass die Kündigung frühestens zum Ablauf eines Jahres nach Überlassung der Räume zulässig ist. Das Schriftformerfordernis ist erst mit Vereinbarung des Nachtrags am 04.11.2014 entstanden. Damit ist dieser Zeitpunkt als der der Überlassung im Sinne des § 550 S. 2 BGB anzusehen, so dass die Kündigung gemäß § 580a II BGB erst mit Ablauf des letzten Kalendervierteljahrs 2015 wirksam werden konnte. Hiernach war der Beklagte zu Recht zur Räumung verurteilt worden, so dass seine hiergegen gerichtete Revision unbegründet war. Jura Intensiv FAZIT Werden individuell vereinbarte Änderungen des Vertragszwecks unter Verstoß gegen § 550 BGB nicht schriftlich abgefasst, gilt der Vertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 04/2017 NEBENGEBIETE Nebengebiete 193 Arbeitsrecht Problem: Weiterbeschäftigungsanspruch und Freistellung Einordnung: Auslegung einer Freistellungsvereinbarung LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.09.2016 9 Sa 812/16 EINLEITUNG Während der Dauer eines Kündigungsschutzprozesses ist unklar, ob die vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung wirksam ist oder nicht. Folglich stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach Ablauf der Kündigungsfrist weiterhin beschäftigen muss oder nicht. Der Arbeitgeber hat kein Interesse hieran. Er möchte seinen Betrieb ohne den gekündigten Arbeitnehmer fortführen und dessen Bindung an den Betrieb lösen. Der Arbeitnehmers hingegen möchte in der Regel seinen Bezug zum Betrieb behalten, seine berufliche Qualifikation nicht durch Untätigkeit schrittweise verlieren und vor allem weiterhin Lohn für seine Tätigkeit beziehen. Vor allem der letzte Punkt ist entscheidend, da der Arbeitnehmer eine Einnahmequelle braucht, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. In drei Fällen kann der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung im laufenden Prozess verlangen: Gesetzlich vorgesehen ist ein solcher Anspruch nur in § 102 V BetrVG (bitte lesen). Außerdem wurde der Beschäftigungsanspruch vom BAG in zwei weiteren Fällen anerkannt: Der Anspruch ist zum einen gegeben, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist. Das ist z.B. der Fall, wenn sich die Unwirksamkeit unmittelbar aus dem Gesetz ergibt (z.B. §§ 102, 103 BetrVG, § 9 MuSchG). Auch existiert der Anspruch, solange ein der Klage stattgebendes Urteil noch Bestand hat. In diesem Fall ist durch das Urteil eine vorläufige Klärung der Rechtslage eingetreten, die das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers gegenüber dem Interesse des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen, als vorrangig erscheinen lässt. Es handelt sich beim Weiterbeschäftigungsanspruch wegen Obsiegens in der Tatsacheninstanz um einen unechten (uneigentlichen) Hilfsantrag, der also nur für den Fall gestellt wird, dass der Arbeitnehmer mit seinem Hauptantrag gewinnt. Arbeitnehmern ist vor diesem Hintergrund meist zu raten, zusammen mit der Kündigungsschutzklage einen Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Verfahrens zu stellen. Verweigert der Arbeitgeber trotz Verurteilung die Weiterbeschäftigung, kann der Arbeitnehmer seinen im Urteil festgehaltenen Anspruch per Zwangsvollstreckung durchsetzen. Jedoch könnte der Arbeitgeber das „verlockende“ Angebot machen, dass der Arbeitnehmer nicht zur Arbeit erscheinen müsse, aber der Arbeitgeber den Lohn dennoch zahlen werde. Von dieser Lohnzahlung hat der Arbeitnehmer jedoch nichts, wenn er den Prozess in letzter Instanz schließlich doch verliert. Dann nämlich kann der Arbeitgeber Jura Intensiv LEITSATZ Vereinbaren Parteien nach erstinstanzlichen Obsiegen eines Arbeitnehmers im Kündigungsrechtsstreit und Verurteilung des Arbeitgebers zur vorläufigen Weiterbeschäftigung eine Freistellung zur Vermeidung der Vollstreckung der Weiterbeschäftigung, so ist diese Freistellung einer tatsächlich erfolgten vorläufigen Weiterbeschäftigung gleichzusetzen. Der Arbeitnehmer ist nach rechtskräftigem Unterliegen im Kündigungsrechtsstreit nicht verpflichtet, für die Zeit der Freistellung bezogenes Entgelt zurückzuzahlen. Für die Anwaltsklausur im 2. Examen: Der vom Anwalt zu stellende Antrag könnte z.B. lauten: Es wird beantragt 1) festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom (Datum) beendet wurde, 2) für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag unter Ziffer 1), die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als stellvertretender Filialleiter weiterzubeschäftigen. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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